Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
nichts und sparten keine Munition, um nur ein paar Meter weiter vorzudringen. Es war noch schlimmer als einst in Stalingrad. Von der Härte der Kämpfe zeugt die Tatsache, daß über die Hälfte von den Offizieren und Mannschaften unseres Bataillons in Berlin gefallen sind. Und wir hatten vor dem Angriff hundertprozentig Sollstärke.
Lothar Loewe *1929
Berlin
Am 30. April vormittags waren wir in der Sophie-Charlotten-Straße, als plötzlich drei russische Panzer schießend in Richtung Kaiserdamm vorrollten. Felgentreu und ich flüchteten durch einen Hausflur und Kellergänge in einen ziemlich großen Kellerraum mit einer Fensterluke zur Straße. Auf Befehl des Leutnants brachte ich die Panzerfaust mit hochgeklapptem Visier feuerbereit in Anschlag. Der zweite Russenpanzer wurde von mir getroffen. Der Panzer stoppte, qualmte ein paar Sekunden lang, und dann gab es eine Explosion in 20 Metern Entfernung. In panischer Angst, im Pulverrauch des Panzerfaust-Rückstoßes hatte ich mich instinktiv zu Boden geworfen. Ich glaube, ich schlotterte vor Angst. Felgentreu zog mich hoch und sagte ganz ruhig: «Junge, ab über die Hinterhöfe, der Iwan wartet nicht ...» Wir entkamen in Richtung Schloßstraße und kreuzten die Bismarckstraße unter Granatwerferbeschuß. Dies war ein aufwühlendes Erlebnis, und ich verspürte keine Lust, noch ein weiteres Mal auf russische Panzer zu schießen.
Der Wachtmeister Arno Pentzien
Berlin
Endlich gelingt es uns, nach stundenlanger Fahrt, im Morgengrauen in der Nähe des Westkreuz im Lietzensee-Park in Stellung zu gehen. Wir quartieren uns bei Zivilisten ein, die uns freundlich aufnehmen. Alle sind sehr verängstigt. Viel Ruhe bekommen wir aber nicht. Hinter dieser Häuserfront liegen die Schienenstränge der S- und Eisenbahn, und inden Häusern jenseits der Schienen sitzt der Russe. Drüben sind Scharfschützen, die auf jede Bewegung diesseits schießen. Vor uns an den Schienen liegt ein sehr schwaches Volkssturmbataillon. Wir nehmen unsere Gewehre und schießen auf Russen, die sich über die Schienen heranarbeiten. Nach 1 Stunde haben wir neun Russen kampfunfähig gemacht. Nun aber kommt das dicke Ende. Der Russe hat inzwischen im 3. Stockwerk eines uns gegenüberliegenden Hauses ein Pak-Geschütz in Stellung gebracht und beschießt uns tüchtig. Hinzu kommen noch Granatwerfer. Unser Hauptwachtmeister Fricke, der auch mal schießen wollte, bekam einen Brustdurchschuß und nun lag er da im Treppenhaus. Wir schafften ihn schnell in ein nahe gelegenes Lazarett. Er hatte zum Glück nur einen Lungendurchschuß.
Der Lehrer Willi Damaschke 1892 –1957
Berlin
9.30 Uhr
Gestern nacht mußten wir uns plötzlich «absetzen». Nun stehen wir seit vielen Stunden in einem Hausflur, oben haben wir die Tür zu einer Volksbücherei aufgebrochen: ich gehe die Reihen der Bücher durch: August Winnig, Das Buch der Wissenschaft, Felix Timmermann, Die Familie Hernat, Wilhelm Scholz, Regina Holderbusch usw. usw. Wie anders stände ich in Friedenszeiten hier. Es ist die Ravennee-Straße. Auf Schloß Marquardt bei Potsdam war ich bei dem Fabrikkönig Ravennee zu Gast. Du hast mich damals besuchen können. Jetzt bin ich in einer Ravennee-Straße, mitten im höllischen Feuer.
Hoffentlich kommen wir hier wieder raus.
Ich schreibe dies in den Räumen der Bibliothek. In der rechten Manteltasche habe ich eine Flasche «Haase-Köm», aus der ich mich ab und zu wärme.
Ein elendes Leben!
Ich möchte einmal aufs Häuschen, aber der Hof steht unter starkem Beschuß.
*
Friedhöfe der
St. Georgen-Parochialgemeinde
Berlin-Prenzlauer Berg
Name: Johannes H.
*3 . 1. 1891
Bankvorsteher
Selbstmord durch Erschießen
Name: Gertrud H.
*18 . 1. 1897
Ehefrau
Selbstmord durch Erschießen
Name: Gisela H.
*17 . 11. 1923
Kontoristin
Selbstmord durch Erschießen
Name: Bruno M.
10 Jahre, 1 Monat, 21 Tage
Schüler
Erschossen durch die eigene Mutter
Name: Gisela M.
9 Jahre, 1 Monat, 4 Tage
Schülerin
Erschossen durch die eigene Mutter
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Der dänische Journalist
Jacob Kronika 1897–1982
Berlin
Es ist viele Stunden hindurch vollkommen unmöglich, den Bunker zu verlassen. Das Schießen ist zu ununterbrochenem Trommelfeuer angewachsen. Viele Einschläge außerhalb des Bunkers. Der Bunker selber schaukelt kräftig. Vermutlich wird an der Ost-West-Achse, an den Bahnhöfen Zoo und Tiergarten, sowie in Charlottenburg gekämpft. Wir haben nunmehr das Gefühl, daß gerade «unsere» Ecke der «Festung
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