Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
waren über 1000 km (Luftlinie) von der Heimat entfernt. Die Brücken nach dahin waren für uns zerbrochen. Wo war die stolze deutsche Wehrmacht? Hatte sie dieses verdient? Sollten alle Opfer umsonst gewesen sein? Mit den Gedanken war man wieder in der HKL. Ja, es war furchtbar, wenn man sah, daß neben einem die Kameraden fielen oder verwundet wurden. Nicht, daß man nicht stark genug war, dieses ertragen zu können. Doch. Aber wofür mußten sie bluten?
Gerhard Angerabend
Libau
Die Lage wurde von Stunde zu Stunde kritischer, denn ein Schiff nach dem anderen legte ab, und in einer solchen Situation kann unter den Wartenden unversehens eine Panik ausbrechen, die zu einer Katastrophe führen mußte. Und gerade in diesen Stunden zeigte sich noch einmal die ungebrochene Haltung und Disziplin des deutschen Soldaten aller Dienstgrade wohl in seiner vorbildlichsten und überwältigendsten Weise. Stumm stand diese Menschenmauer auf dem Quai, kein unnützes Wort, kein Fluch kam von den Lippen dieser Männer, die damit sich selbst überwanden.
Schon senkte sich die Dämmerung über den Hafen, als noch ein Dampfer, der letzte, an unserem Becken anlegte und der Kapitän mir sagte, daß er nur 50 Mann noch mitnehmen könne. Als fast alle von uns auf dem Schiff waren, kam ein Feldwebel zu mir mit der Bitte, ob noch etwa 40–50 verwundete Soldaten auf das Schiff kommen könnten. Der Kapitän des Dampfers mußte diese Bitte aus Sicherheitsgründen für sein Schiff ablehnen. Da gab ich den Befehl, daß die Männer meiner Division wieder aussteigen, um den Verwundeten Platz zu machen. Ein folgenschwerer Befehl, denn auf dem Schiff waren meine Männer bereits in Sicherheit, und wer garantierte mir und ihnen, daß noch ein Schiff kam? Der Hafen war ja schon leer. Und dennoch, sie kamen alle wieder zu mir auf die Landungsbrücke. Tapfere deutsche Männer, die auch jetzt noch ihren Kommandeur nicht verlassen wollten und zu ihm hielten, selbst in dem Bewußtsein, die Chance für eine Heimkehr verspielt zu haben. Bange Augenblicke folgten, in denen kein Wort mehr gesprochen wurde und in denen noch alle Blicke auf mich gerichtet waren mit der stummen Frage, was nun? Und da nahte die Rettung. Ein Schnellboot unserer Kriegsmarine hatte noch eine Rundfahrt durch den Hafen gemacht, sah uns auf der Brücke stehen und nahm uns an Bord, nachdem der Kommandant nochmals zu der im Außenhafen von Libau sich sammelnden Flottille zurückgefahren war, um auf seinem Boot für uns noch Platz zu schaffen. Nachdem es völlig dunkel geworden war, verließen wir als letzte den Hafen von Libau und landeten am 9. Mai abends in der Geltinger Bucht in Schleswig-Holstein.
Ein Soldat
Libau
Gegen 18 Uhr fuhren wir nach Libau hinein, bis der Laster steckenblieb. Jeder nahm sein Gepäck und Gewehr und ging zu Fuß weiter. Etwa 400 Meter vor dem Hafengelände fingen alle an zu laufen. Einer rief dem anderen zu: «Schnell – das letzte Boot!» Am Hafenbecken spieltensich dramatische Szenen ab. Jeder wollte auf so einen Prahm. Alles schrie und stieß. Ich kann mich gut daran erinnern, daß ein Obermaat brüllte: «Los, Kameraden, es ist das letzte Boot!» Ich sprang noch auf den Prahm, als dieser sich schon in Bewegung setzte. So war ich vielleicht der letzte, der von Libau wegkam. Was sich an Tragik abspielte, habe ich in diesem Moment nicht mehr miterlebt. Habe noch Schüsse gehört, aber um was es sich gehandelt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Es war der Lauf ums nackte Leben. All die Tausende, die sich noch im Hafengelände befanden, und die Kameraden auf den Straßen und Wegen nach Libau: Sie konnten die rettenden Boote nicht mehr erreichen.
Gegen halb zehn Uhr abends sammelten sich die Kutter, Fähren und Fährprähmen auf offener See und stellten sich zu Geleiten nach Schleswig-Holstein zusammen. Libau brannte lichterloh. Fünf deutsche Transportflugzeuge wurden von russischen Nachtjägern abgeschossen und stürzten in die Ostsee. Auf unserem Prahm waren etwa 200 Menschen, die wie Heringe im Bauch des Bootes hingen.
*
Josef Potzgruber
Hela – Eckernförde
Als am Abend des 8. Mai, pünktlich wie an den Tagen zuvor, die Boote und Prähme ankamen, lagen wir sprungbereit in unseren Löchern. Als wieder kein Befehl kam und alles zu den Booten drängte, sprangen auch wir aus unseren Löchern, stürmten durch das brusttiefe Wasser zu den schon hoffnungslos überfüllten Booten. Zusammen mit drei Kameraden versuchten wir, den erhöhten Bootsrand zu fassen.
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