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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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wichtig vor. Er bat um Ruhe, schlug seine «Akten» auf, und alles mußte hinhören. Er las uns die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht vor. Anschließend hielt er eine kurze Ansprache, in der er u. a. sagte: «Die Deutschen sind alle politische Verbrecher und müßten demnach behandelt werden.» Ganz anders dagegen sprach eine russische Frau einige Tage nach der Kapitulation zu uns. Ob nun einer gut oder schlecht zu uns sprach, war uns, in Anbetracht unserer Lage, vollkommen gleichgültig, wir nahmen alles teilnahmslos hin.
    Ein Soldat
Kriegsgefangenenlager Morschansk/Sowjetunion
    In Morschansk erlebten wir den 8. Mai 1945. Alle Gefangenen mußten auf einem großen Platz Aufstellung nehmen, nach Nationen getrennt. Uns wurde der Kriegsschluß mitgeteilt. Vorbeimarsch der russischen Offiziere. Gemeinsam die «Internationale» gesungen. Am anderen Taghatte ich Glück und durfte mit einigen Kameraden den Siegesfeier-Saal der Russen säubern. Dabei war manche zertretene Brotkruste, mancher Heringskopf eine willkommene Zusatzverpflegung für uns.
    Wilhelm Winkelmann *1917
Kriegsgefangenenlager bei Kiew
    Vieles habe ich dem russisch-jüdischen Arzt zu verdanken. Er hieß Major Reifmann, der sich noch sehr für uns Kriegsgefangene eingesetzt hat. Doch er kam etwas spät zu uns, denn die meisten Gefangenen waren mittlerweile schon gestorben.
    Auch ein deutscher Arzt kam zu uns, der uns durch Massagen wieder auf die Beine brachte.
    Nachdem die letzten Überlebenden so einigermaßen genesen waren, wurden wir verlegt, und es wurde eine ehemalige Schule als Hospital aufgemacht. Nun kamen viele Kapitulations-Gefangene zu uns, es waren wohl einige hundert, und die Räumlichkeiten wurden mal wieder alle überbelegt. Zu uns kam dann eine russische Ärztin, die sehr nett zu uns war. Sie hat uns allen Mut gemacht, hatte für jeden ein gutes Wort. Sie hatte ein gutes Gedächtnis und kannte bald jeden mit Namen und auch deren Krankheit.
    *
    Der Schriftleiter Paulheinz Wantzen 1902 –1974
Münster
    Die Liste der «Nazis» bei der Besatzung in Telgte soll 170 Namen tragen und täglich länger werden, weil die Leute sich in einer üblen Weise bei den Amerikanern als Denunzianten betätigen, besonders die Frauen. Der amerikanische Kommandant soll sich deswegen schon sehr abfällig über die deutsche Bevölkerung und die Frauen geäußert haben.
    Hans Friedrich Blunck 1888–1961
Greben/Holstein
    Nicht leicht, sich auf Waffenstillstand umzustellen. Man sieht noch immer nach dem Himmel, sobald ein Flieger summt, und will Deckung nehmen.
    Schmähliche Beispiele der Selbsterniedrigung.
    Wie vorauszusehen war, bringt der Rundfunk, der von sämtlichen Ländern her auf uns einhämmert, die Gefahr der Kritiklosigkeit und des Verlustes der unabhängigen Meinung. Auch wenn wir in diesen Dingen Protestanten sind und die Landschaft nicht anders sein kann, so ergeben sich doch manche den einlullenden und einwiegenden Wiederholungen, die sie, hungrig auf Nachrichten, im Rundfunk hören.
    Aber so wenig wir Geistigen uns in den letzten Jahren die Kritik haben nehmen lassen, so wenig werden wir jetzt nachgeben.
    In einem allerdings erhielt ich gestern eine bittere Lehre. Ein Hauptmann, von Beruf Konfektionär, wusste aus seinen Erinnerungen Näheres über die Vorgänge in den Konzentrationslagern. Er sagte ungefähr: Die Greuelpropaganda wird jetzt hervorgesucht, um uns vergessen zu machen, dass man Hunderttausende unserer Frauen und Kinder niedergemetzelt hat, sinnlos, ohne irgendeinen kriegerischen Zweck. Aber es ist auch verkehrt, die Augen vor dem zu verschliessen, was bei uns geschah. Es sind einige hundert Verbrecher gewesen, die in den Konzentrationslagern der Gestapo (nicht SS) sich austobten, teils wirkliche entlassene Zuchthäusler, die durch ein absolutes Schweigegebot keine Nachricht aus ihren Kreisen hinausliessen. Dass die breiten Kreise unseres Volks nichts davon gewusst haben, ist richtig, dass selbst die höhere Führerschicht über die Einzelheiten nicht im Bilde war, ist wahrscheinlich, sie hätte sonst niemals die Konzentrationslager dem Gegner überlassen.
    Wir haben bei allen Völkern Beispiele solcher Verbrechensgruppen; die russische wie die englische Geschichte ist voll davon. Aber es ist nun einmal so, dass wir den Krieg verloren haben, dass wir keine Stimmen zur Antwort haben und dass der Sieger als Zeugen die Macht auf seiner Seite hat. Der Hauptmann glaubte von Menschen zu wissen, die man an den Füssen

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