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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Jeden Tag sprach er mit schluchzender Stimme über den Dnepr undChreschtschatik [Hauptstraße in Kiew], mit Wehmut dachte er daran zurück, und als Arbeiter war er ganz wenig wert.
    Es war schon Mitte Februar 1945, ganz genau kann ich mich daran nicht mehr erinnern. Wir hatten mit Nikolaj den Acker zu düngen und die Steine dort wegzubringen. Am Dorfrand hatte unser Bauer einen vernachlässigten Schacht, in den wir die auf dem Acker gesammelten Steine zu werfen hatten. Dafür waren wir mit einer Schubkarre und einer Spitzhacke, für den Fall, daß die Steine zu groß waren, ausgerüstet. Als wir am Nachmittag an den Schacht kamen, bat mich Kolja überraschend, ihm mit der Spitzhacke den linken Unterarm zu brechen. Irgendwo habe er gehört, daß die Ostarbeiter mit solchen Verletzungen zurück in ihre Heimat abgeschoben würden. Und er könnte es nicht mehr aushalten, er wolle nach Kiew, er habe so ein Vorgefühl, daß er bald ums Leben komme, und er wolle nicht sterben, ohne einen letzten Blick auf seine liebe Stadt und auf sein Haus zu werfen, wo in einem Zimmer mit einer hohen Decke sein Klavier verstaubt stehe.
    «Sei doch nicht so blöd, Mensch», sagte ich zu ihm, «der Krieg ist bald zu Ende, gestern habe ich den Bauern zu seiner Frau sagen hören, die Russen sollen schon an der Oder stehen. Erst mal ist dein Kiew total zerstört, Chreschtschatik liegt sicher in Ruinen, und dein Klavier hat man bestimmt schon längst zum Abfall weggetragen. Und wie stellst du dir vor, über die Front im Osten zu gehen? Sollen die Deutschen etwa für dich eine Flugmaschine reservieren oder wie?»
    Doch Nikolaj war unnachgiebig. Wenn ich ihm den Gefallen nicht täte, wollte er Herrn Bachmann alle meine Vergehen erzählen. Er werde ihn aufklären, wieviel Eier ich heimlich im Hühnerstall getrunken hätte, als ich angeblich die Hühner füttern ging. Er werde ihm die Stelle zeigen, wo ich dann die Eierschalen versteckt hatte. Für so ein Zap-Zarap werde er mir sicher nicht über den Kopf streichen.
    Das hätte mir gerade noch gefehlt. Der Bauer vertraute mir. Ich aß mit ihm und seiner Frau am gleichen Tisch in ihrem Eßzimmer, vor kurzem hatten sie mich mitgenommen, als sie die Mutter der Wirtin besuchten, und man ließ mich aus diesem Anlaß eine fast neue Jacke von ihrem Sohn anziehen. Ich mußte nicht wie Nikolaj abends in der Baracke schlafen, ich schlief in einem Zimmer neben dem Schlafzimmer von Herrn Bachmann und zwar in einem Daunenbett unter einer Daunendecke. Und das alles sollte ich wegen der verfluchten Eier verlieren? Nein, das wollte ich nicht zulassen.
    Also kippten wir die Schubkarre um, damit Nikolaj seinen Arm darauf legen konnte, dann wickelten wir seinen Arm in mein Unterhemd, damitder Pickel keine Spuren auf der Haut hinterließ, und ich schlug mit voller Kraft zu. Kolja schrie kurz auf, erbleichte und verlor das Bewußtsein. Sein Arm schwoll rasch dunkelblau an. Danach schleppte ich Nikolaj an die Schachtlücke und warf noch einen großen Stein auf seinen Arm. Herr Bachmann ließ Nikolaj zum Krankenhaus nach Sonders- hausen fahren. Dort legte man ihm den Arm in Gips und nach einigen Wochen goß er schon mit seiner Rechten Blumen bei dem Blumenzüchter, zusammen mit den abgeschobenen Franzosen. Ich habe ihn dort besucht. Er nahm mir nichts übel, er hatte nur Angst, daß er jetzt nicht mehr Klavier spielen können würde.
    Ein deutscher Soldat
(Rappenhof)
    Strahlender Frühlingsmorgen, die ersten Kirschen blühen. Ich sitze in meinem Studierzimmerchen und lese in Hans Carossas «Geheimnisse des reifen Lebens». Vor meinem Fenster gräbt ein ukrainischer Soldat unseren Garten um, ich habe ein unbehagliches Gefühl dabei, wie dieser Mensch sich für mich schindet, während ich hier untätig sitze. Welches sind die Ursachen unserer tödlichen Niederlage? War es nur die Uneinigkeit zwischen politischer und militärischer Führung, die am 20. Juli 44 zum Ausbruch kam, und wird es wieder ein Versailles geben? Ist es der Sieg des Bolschewismus, also das Böse über das Gute? Oder stehen wir nicht an einem großen biologischen Wendepunkt in der Menschheitsentwicklung? Hat nicht das alte Rom im Jahrhundert seines Unterganges noch einen Aetius gehabt? Warum soll nicht der biologisch starke, unverbrauchte slawische Mensch zum Erben Europas bestimmt sein? Sind nicht auch die Germanen den Römern als kulturlose Barbaren erschienen? Auch die Tatsache, daß schon jetzt vor Beendigung des Krieges, das allmächtige England

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