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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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verantwortlichen Offizier, der uns nach unseren Erlebnissen fragte, uns Tee gab und – zu unserer Überraschung – weißes Brot, etwas, das wir seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatten. Zuerst dachten wir, es wäre Kuchen, aber der Leutnant versicherte uns unter Gelächter, daß es Brot wäre. Das Haus hatte offenbar einflußreichen Personen gehört, denn es war wundervoll möbliert und ausgestattet.
    Die G.I.s. waren damit beschäftigt, den Ort zu plündern, bevor die Militärpolizei eintreffen würde, die gewöhnlich dicht hinter den Vortruppen folgte. Sie forderten uns auf, alles zu nehmen, was uns gefiele, aber wir waren so froh, frei zu sein, daß nichts anderes für uns von Wert war.
    Der britische Kriegsgefangene A .J. East
Mühlberg/Stalag IV B
    Heute gingen Bill, Reg Fox und ich los, um uns Mühlberg anzusehen. Hunderte von Plünderern mit gestohlenen Fahrrädern, Kinderwagen – sogar Puppenwagen –, Ziehwagen, Kinderbetten etc., alle mit Beutegut beladen, kehrten zurück. Ein paar deutsche Herumtreiber waren auch unterwegs.
    Die Straßen der Stadt waren mit Abfall übersät, und aufgeregte Menschen liefen überall umher und schauten sich ihre Häuser von draußen an.
    Offensichtlich war die Methode so, daß die Meute einem russischen Soldaten folgte, der vor einem Haus oder Geschäft stehenblieb und an die Tür klopfte, die dann von einer deutschen Frau geöffnet wurde. Sie flehte die Eindringlinge an, wurde aber schnell von schmutzigen kleinen Itakern beiseite gestoßen. Ihnen folgten Angehörige anderer Nationalitäten, einschließlich Briten. Eine Heuschreckenplage ist nichts gegen einen aufs Plündern bedachten Pöbel. Die Lagergeistlichen versuchten das Schlimmste dieses Vandalismus zu verhindern.
    Obgleich uns unser Stolz verbot, am allgemeinen Plündern teilzunehmen, genossen wir die Früchte, die die anderen mit in die Baracke gebracht hatten. Jetzt haben wir Speck, eingemachtes Obst, Honig, Milch, Marmelade, Zwiebeln, Rhabarber, Ersatzkaffee, Butter, Reis, Makkaroni und andere Fressalien.
    Es gab heute nacht große Aufregung, als ein Jeep mit Amerikanern in unser Lager fuhr.
    Mit Hochrufen sprangen die aufgeregten Krieger auf das Fahrzeug, das auf der Hauptstraße hin- und herfuhr.
    Der Offizier erklärte, er sei genau so glücklich wie wir hier und denke,daß wir in Kürze mit Fahrzeugen wegkämen und Zigaretten erhielten. Die ganze Nacht hindurch gab es eine lange Parade von Leuten, die auf den Toiletten kotzten.
    *
    Karla Höcker 1901–1992
(Berlin)
    Unwirklicher Abend bei Gründgens: kleiner, festverrammelter Souterrainraum, Kerzenbeleuchtung, Sekt. Ein paar Stunden ist es, als wäre der Krieg ferner gerückt. Diskussionen um das, was kommen wird. Scrullo sagt etwas Merkwürdiges, etwas, das uns alle angeht. Er sagt: «Es war unser Schicksal, immer ‹dagegen› sein zu müssen, und wir wären doch so begabt gewesen, ‹dafür› zu sein.» Er meint damit: für Menschlichkeit, für geistige Freiheit hätte ich mich begeistern können. Für manches andere noch. «Für das hier? – Neee!» Geri sagt: «Man wird eine neue Lebensform finden, gerade wir, die Erfolg hatten, können auf äußere Glücksmöglichkeiten verzichten. Beruf, Kunst, – wir haben das alles gelebt, uns bis zu einem gewissen Grade erfüllt. Vielleicht werden wir nun menschliche Erlebnismöglichkeiten nachholen ...»
    Gründgens sagt, gewissermaßen sotto voce: «– und ich werde pausenlos SS-Männer darstellen müssen.» Immer wieder bricht, trotz aller Überlegenheit und Ironie, die Besessenheit des Akteurs durch, der spielen muß , – dem ein Leben ohne Theater unausdenkbar ist. «Von meinen ganzen Rollen würde ich nur noch zwei gelten lassen. Selbst den H amlet –, Herrgott, wenn ich den jetzt spielen könnte –!»
    Später eine groteske Szene in der Küche. Gründgens holt Ölsardinen, Wiener Würstchen in Dosen, Weitkamp schneidet Brote. Es gibt selbstgemachte Leberpastete, und wir tafeln, von Kerzen sanft beleuchtet, gefräßig und glücklich am Küchentisch, als wäre das die Erfüllung dieses merkwürdigen Tages. [...]
    Wir sprechen über das Kommende. Daß man Theater spielen wird in Kellerräumen, ohne Kostüme, in Zelten, – aber man wird spielen. Neues wird sich entwickeln. In der Oper, meint Geri, wird die große Form weichen, man wird wieder Kammerorchester haben, wird experimentieren. Scrullo, skeptisch: «Ja, wenn sie uns experimentieren lassen!» Die große Frage. Haben wir in dieser neuen Welt

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