Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
1900–1958
(Haan/Rheinland)
Zu dem erwähnten Heilprozeß gehört auch dies: daß ich, seit er im Gange ist, nur mehr wenig Neigung verspüre, nach Chronistenart vom Verlauf der äußeren Ereignisse Notiz zu nehmen. Mich geht jetzt bloß an, was mit diesem Heilvorgang im Zusammenhang steht, – genug und übergenug freilich! Es ist ein Vorgang von weiträumiger Erstreckung, und seine Inständigkeit bestätigt mir die alte Überzeugung, daß der Mensch, solange er in der Fülle des Daseins steht, auch physisch ein Wesen von sphärischer Größe ist.
Um gleich ein Äußerstes zu nennen: ist nicht die Nacht, wie sie sich jetzt wieder herabsenkt, sich silbern und samtig mit Stille, mit Stimmen unermeßlichen Schweigens und Atmens niederspendet, mit Schlafes süßem Vergessen von allen Sternen träuft und mit Strömen voll Träumen sich durch die ruhende Brust ergießt, – ist sie nicht gleich einem leibhaft mir Zugehörigen, von dem ich lange geschieden war? Ein Leib von zartester Physis, gewoben aus Sternlicht, Äonen der Zeit, Unermeßlichkeiten des Raums? Nicht Hülle nur meines Selbst, sondern selber Substanz meines Selbst? Oder die vielhundertjährige Eiche droben am Windhügel, an der ich durch mehr als ein Jahr fast täglich vorüberging, doch kaum je, ohne das Brennen der Wunde zu spüren, daß sie außer mir dastand: ist es nicht jetzt wieder im Meinigen, wo sie steht und sich begrünt? Durchaus eine mir eigene Zone, wo sie ihr mächtiges Astwerk reckt und Nester von Himmel in sich birgt? Und so ist es mit vielem.
Sogar die Aufräumungsarbeiten auf der Straße erscheinen mir zuvörderst, in Unmittelbarkeit, unter diesem Aspekt der Heilung und Wiederherstellung von etwas mir Eigenem; obwohl man, wie ich weiß – denn an äußeren Zeichen ist es nicht bemerkbar –, gewisse Träger der lokalen Tyrannis zu diesen Arbeiten angestellt hat, die sie als eine Demütigung empfinden mögen (während sie eine Gelegenheit für sie sein könnte, sich selber unter die Einsicht ihrer aktiven Mitschuld an dem schauerlichen Spiel unsrer nationalen Tragödie zu demütigen). Aber um hierauf zu sehen, bedarf ich erst eines besonderen Anstoßes der Besinnung, wie ihn etwa das Auftauchen eines bekannten Gesichtes hervorbringt, von dessen Zügen inzwischen die törichte Anmaßung der Macht gewichen ist. Übrigens wird diese Arbeit bereits in wenigen Tagen getan sein, soweit es die Hauptstraße betrifft; die Panzersperren sind schon zum größten Teil weggeräumt, die zerschossenen und ausgebrannten oder von Plünderern ausgeweideten Autos abgeschleppt, die zerschlagenen Gewehre, die fortgeworfenen Stahlhelme und Koppel und ganze Berge verstreuter Munition gesammelt, und nur das in Wut ausgeräumte Parteihaus, aus dem heraus noch eine Panzerfaust abgefeuert wurde, und die Brandruinen zweier Häuser beim Rathaus, die in der ersten Nacht in Flammen aufgingen, werden noch eine Weile an die Entscheidungsstunden jenes unvergeßlichen Montags erinnern. Doch auch diese Makel und Male begütigt rasch das Grün der alten Linden, das so zeitig in diesem Frühjahr seinen dämmriggoldenen Bogen über die Straße wölbt; und wenn ich nachmittags oder gegen Abend mich auf eine Stunde ins väterliche Haus begebe, so gehe ich unter dem grünen Gewölb von einem Frieden umfangen dahin, wie ich ihn süßer nie erfahren habe und ihn nicht mehr für möglich gehalten hätte.
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Der amerikanische Kriegsgefangene
Ray T. Matheny *1925 Braunau am Inn
Wir kamen durch etliche kleine Dörfer und Städte. In einer Stadt gelang es ein paar von unseren Leuten, etwas Speiseeis zu kaufen, nur war der Vorrat nicht groß. Im selben Städtchen bot uns ein unternehmensfreudiger Vater seine Tochter für ein paar Reichsmark zur Belustigung an. Es gab liebeshungrige Kriegies, die darauf warteten, bis sie an die Reihe kamen.
Manchmal boten Österreicherinnen am Wegesrand Körbe mit Äpfeln und Möhren zum Verkauf. In einem Städtchen warfen die Frauen kleineBrocken Brot auf uns herunter. Wir segneten diese Frauen, doch glaube ich, daß sie sich den ungarischen Juden gegenüber, die vorher durch ihre Stadt gekommen waren, nicht so freundlich gezeigt hatten. Unter den Zivilisten herrschte eine allgemeine Atmosphäre der Angst, denn die deutschen Verbände waren bereits abgezogen und hatten sie ihrem Schicksal überlasen. Wahrscheinlich behandelten die Zivilisten uns so freundlich, weil sie hofften, deshalb nach Beendigung des Krieges selber besser behandelt zu
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