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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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auch davon, daß eine deutsche Panzerarmee aus dem Westen im Anrollen sei, und daß wir nur noch 24 Stunden aushalten müßten, dann würde sich alles ändern. Daß man den Westen entblößt, um die Reichshauptstadt zu retten, das glaube ich wohl, aber daß an dem Endergebnis noch etwas zu ändern ist, das glaube ich nicht. Ich sehe ja auch tagtäglich unsere Truppen vor den Fenstern. Mit denen ist kein Krieg mehrzu gewinnen. Aber es wäre immerhin möglich, daß vorne in der Hauptkampflinie doch noch zuverlässige Truppen liegen.
    Nachdem ich vorgestern dreimal in der Technischen Vorschule der Luftwaffe in Mariendorf gewesen war, ohne jemanden anzutreffen, versuchte ich es gestern nochmals, wieder mit dem gleichen negativen Erfolg. Allerdings, es mußte jemand dagewesen sein, denn 1.) war die Wirtschaftsbaracke nun abgeschlossen und 2.) ergab sich bei einer Untersuchung, daß der Ballen Fett, etwa 6–8 Pfund, verschwunden war. Ich wollte, ohne die Baracke zu betreten, schon wieder nach Hause gehen, als ich Herrn Müller vom Haus gegenüber vor der Haustüre stehen sah. Ich unterhielt mich mit ihm; dann kam Fliegeralarm. Herr Müller wollte natürlich auch gerne etwas «erben», aber ich sagte ihm gleich, daß das nicht in Frage käme; wir wollten doch nicht plündern. Aber dann stiegen wir doch zu einem offenen Fenster ein, damit ich ihm einmal die Vorräte zeigen könnte. Auch fütterten wir die herrenlosen Karnickel mit Rüben aus dem Keller. Schade, schade, sagten wir beide. Diese Vorräte an Kartoffeln, Rüben, Sauerkraut, Blaukraut, Brot, Nudeln, Grieß, Zucker usw.! Das sollte nun alles den Russen in die Hände fallen! Im Schrank eines der Jungen, der vorher auf Wache gewesen war, wurde untersucht, da ein ganz fauliger Geruch herauskam. Und siehe da!, eine große Schweinskeule, schon halb in Verwesung übergegangen, kam zum Vorschein! Und, o Freude!, ein großes Paket – 10 Pfund – Markenbutter. Beides beschlossen wir zu teilen und mitzunehmen, bevor es gar verderbe. Vielleicht war das Fleisch noch zu gebrauchen. Wir verstauten die Butter, beschlossen dann, doch noch zwei Brote als Leihgabe vor den Russen sicherzustellen. Als wir gerade vom Keller zurückkamen, hörten wir Stimmen, und siehe da!, Frau Krause war mit noch einer Frau, in der Hand einen Wäschekorb, gekommen, um noch Lebensmittel zu retten. Nun war wenigstens eine autorisierte Person da, die es uns erlauben konnte, Lebensmittel mitzunehmen. Und sie tat dies denn auch; denn man mußte unbedingt damit rechnen, daß die Russen in den nächsten Tagen eindringen würden.
    Frau Krause öffnete den unteren Vorratsraum, und da standen nun noch Säcke mit Zucker, Salz, Mehl, Grieß, dazu massenweise Erbwurst, Milei [Trockenei], Essig, Kaffee-Ersatz, Kunsthonig, Knäckebrot, Suppenwürze, Sago u. s.w., u. s.w. Wir packten ein, was wir unterbringen konnten und was ich nach Hause fortzuschleppen vermochte. Herr Müller lieh mir dann seinen Handwagen, sodaß ich Lebensmittel im Gewicht von ungefähr 1 Ztr. mit heimbrachte. Das Tollste aber war, daß im Eisschrank noch ein ganzer Rinderschenkel hing, so schwer, daß ich ihnnicht einmal heben konnte. Der Eisschrank war zwar abgesperrt, und wir fanden den Schlüssel nicht, aber ich kroch zur Nebenöffnung hinein und schnitt dann Stück um Stück des Fleisches ab und reichte es den Frauen hinaus. Zum Schluß wurde dann der Rest des Schenkels gar hinausgeschleppt. Das Fleisch wurde geteilt; den Löwenanteil hatte Herr Müller. Ich brachte so etwa 8–10 Pfund Fleisch mit nach Hause. Außerdem 4 Brote, 10 Schachteln Knäckebrot, 6 Pakete Kunsthonig, etwa 10 Pfund Sago, ebensoviel Grieß, 5 Pfund Zucker, einige Pakete Kaffee- Ersatz, eine Tüte Nudeln, eine Tüte Trockenzwiebeln, etwa 10 Pfund Mehl und 5–6 Pfund Schinken. Es war eine ganz schöne Fuhre. Dabei heulten abwechselnd die Sirenen Warnung oder Entwarnung, und es war rege Fliegertätigkeit. Ich war heilfroh, als ich wohlbehalten und ohne angehalten worden zu sein, wieder zuhause ankam. Ich war vollkommen durchnäßt, nicht vom Regen, sondern vom Schweiß; denn ich hatte natürlich höchste Geschwindigkeit eingeschaltet.
    Hertha von Gebhardt 1896–1978
Berlin-Wilmersdorf
    Gerüchte, Gerüchte. Wir leben davon wie von leicht fauliger Nahrung, wir haben keine andere mehr. Die Befürchtungen, die uns umtreiben und die immer in neuer Form sich aufdrängen, sind quälender als der Zustand, der ist . Kann man allen Hausgenossen trauen? Hat jemand doch noch

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