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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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noch Existenzberechtigung? Werden wir denken, leben, essen, spielen und darstellen können, wonach uns verlangt? Die Unantastbarkeit der Person ist gründlich zerstört worden!
    Gründgens lächelt, während er ein Sektglas in den Fingern dreht: «Wir haben ihnen ja schon vorgelebt, was uns schön, richtig, vollkommen erschien, haben Muster und Beispiele aufgestellt. Aber ich fürchte, man wird uns alles anrechnen, was wir unter Zwang taten und sagten. Man wird uns verantwortlich machen für Dinge, an denen wir unschuldig sind.» Dann, mit einem Versuch, die Situation ins Lächerliche zu ziehen: «Wir sind tatsächlich wie das Huhn in der Bahnhofshalle ‹nicht für es gebaut›. Es ist nicht unser Stil. Wir müssen das alles erleben, aber es steht uns nicht.»
    Lieselott Diem
Berlin-Eichkamp
    Es kommen flüchtende und sich zurückziehende junge Soldaten hier durch, keuchend vom Lauf. Sie flüchten hier durch die Gärten weiter nach der Stadt zurück. Arme Kinder – so jung wie sie sind. Die Russen sollen hier am Bahnhof stehen – Aufregung und Angst überall. Wir warten ab. Es wird alles ruhig vor sich gehen. Daß der Kampf nur bald ein Ende hätte. Man weiß immer noch nichts Näheres. ...
    Am frühen Nachmittag wagen wir uns aus dem Haus, und ganz Eichkamp ist auf den Beinen, Wasser holen und einkaufen. Es gibt Fleisch, Trockenmilch und Brot. Ich gehe bei Zettelmeyers vorbei, die Frau ist elend und niedergeschlagen. In der Eichkampstraße hat ein russischer Panzer gestanden, und eine Frau ist erschossen, andere verwundet. Beim Heimgang wieder schwere Beschießung, und ein Panzer fliegt in Waldrichtung in die Luft, ein hellglühender Splitterregen.
    Gegen Abend kommt plötzlich der Mann – entlassen! Er ist von allem tief bedrückt, aber glücklich sind wir, zusammenzusein. Nun werden wir vieles leichter ertragen. Neben ihm sind heute viele gefallen, durch Artillerietreffer oder Bomben – das Schicksal war ihm wie schon so oft wieder gnädig.
    Das Schlafen wird nicht ganz einfach, da der Keller so klein ist. Wir – Carl und ich – versuchen es erst oben im Eßzimmer auf dem Boden auf unseren Matratzen – unmöglich, da der Bombenregen ab ein Uhr den Kalk auf unsere Gesichter regnen läßt. Wir legen uns unten auf die Erde – der Mann ist sehr erschöpft.
    Ein Arzt
(Berlin)
    Erhängte Soldaten in Berlin, mit Schildern um den Hals: «Ich war zu feige, meine Frau und meine Kinder zu verteidigen.» Die Hysterie, die aus diesen Texten abzulesen ist.
    Tote Menschen, wenn die hängen, sind das keine Menschen mehr. Durchden Knick im Hals, durch den schräg abstehenden Kopf und die entspannt herunterhängenden Gliedmaßen wird das, was ein Mensch bedeutet, aufgehoben.
    Lagebesprechung
Berlin/Führerbunker
    Hitler: Auch schon früher in der Geschichte wurde der asiatische Sturm nicht dadurch gebrochen, daß alles kapitulierte, sondern irgendwo muß ihm Halt geboten werden. Wir haben ja selbst einmal erlebt, wie schwer es ist, mit Molotow zu verhandeln. Wir waren damals auf dem Höhepunkt der Macht. Hier steht der asiatische Khan, der Europa erobern will. England sieht ganz genau ein, daß sich der Bolschewismus auch über die heute von ihm bereits erreichten Punkte weiterfrißt. Es ist dies nun einmal die Entscheidungsschlacht.
    Wenn ich diese Schlacht gewinne, dann verspreche ich mir davon nichts für meinen persönlichen Namen. Aber dann bin ich rehabilitiert. Dann kann ich eine Anzahl von Generalen und Unterführern einschließlich in der SS beseitigen, die in entscheidenden Punkten versagt haben. Aber all denen, denen ich ihr Absetzen zum Vorwurf mache, denen mußte ich selbst einmal das Beispiel geben, daß ich mich nicht absetze.
    Es ist auch möglich, daß ich hier zugrunde gehe. Dann bin ich aber anständig zugrunde gegangen. Das wäre immer noch besser, als wenn ich als ein ruhmloser Flüchtling in Berchtesgaden sitze und Befehle von dort gebe, die nichts nützen. Diese sogenannte Südfestung ist nicht autark. Das ist eine Illusion. Die Armeen dort unten sind brüchig. Es ist im Süden einfach nichts zu machen.
    *
    Hans Heischmann 1906–1990
Berlin-Tempelhof
    Man behauptet schon seit einigen Tagen, daß wir mit Amerika und England Waffenstillstand geschlossen hätten, und daß nun die Amerikaner mit uns gegen Rußland kämpfen werden. Wer das wohl glaubt? Das ist sicher ein absichtliches Gerücht, um die Soldaten und die Zivilbevölkerung aufzumuntern und ihre Widerstandskraft zu stärken. Einige sprechen

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