Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Denn es sind die gleichen Zellverbände in der Amygdala, die in ihrer Doppelfunktion das emotionale Gedächtnis kodieren und den Brain-Pull bestimmen. Zeile für Zeile und Kapitel für Kapitel schreibt jeder Mensch so an seiner Stressbiographie. Dieses Lebensbuch der Stresserfahrungen und Stressantworten enthält bei manchen Menschen schlimme, aufwühlende Kapitel, die die ganze Erzählung bestimmen – wie bei den traumatisierten Kindern des holländischen Hungerwinters. Bei anderen gleicht die Stressbiographie eher einem langen ruhigen Fluss. Wenn das emotionale Erleben von Stress und der Umgang mit Stressoren untrennbar mit der Energieversorgung des Gehirns verbunden sind, folgt daraus, dass jede Stresserfahrung, die das Gehirn macht, auf die Einstellung des Brain-Pulls einwirkt. Indem wir also lernen, mit Stress umzugehen, beeinflussen wir auch die Strategien der Energieversorgung unseres Gehirns. Dieser Vorgang ist bisher wenig beachtet oder untersucht worden. Er spielte in Fragen der Kindererziehung, Verhaltens- oder Ernährungsforschung kaum eine Rolle.
Will man dem eine Bezeichnung geben, trifft der Begriff »metabolisches Lernen« es am besten (Metabolismus = Stoffwechsel). Denn dieser Lernvorgang, der den Brain-Pull optimiert, findet in der Software unserer Stoffwechsel-Ampel statt. Wir dürfen voraussetzen, dass nahezu jeder Mensch mit einer »normalen« Grundeinstellung dieses Brain-Pull-Programms auf die Welt kommt (eine Ausnahme bilden zum Beispiel im Mutterleib traumatisierte Kinder). Im weiteren Verlauf passt sich das Betriebssystem unseres Stoffwechsels durch permanente Updates an neue Gegebenheiten an. Bleiben diese Updates aus oder – schlimmer noch – kommt es zu Fehlprogrammierungen, büßt das Betriebssystem an Leistungsfähigkeit ein. Der Brain-Pull ist aber weit mehr als ein einfaches Rechenprogramm, um den Stoffwechsel zu regulieren. Er ist so etwas wie eine Gabe, ein Talent, das trainiert und ausgebaut werden kann; vergleichbar mit Musikalität oder Sportlichkeit. Erst durch Training wird ein musikalischer Mensch zum Musiker oder ein sportlicher zum Athleten. Werden diese Gaben nicht gefördert, verkümmern sie. Beim metabolischen Lernen trainieren wir unseren Brain-Pull und damit die Fähigkeit, unser Gehirn möglichst optimal mit Energie zu versorgen, ohne dass es auf Hilfsstrategien wie Essen in Stresssituationen zurückgreifen muss. Und wie bei Musikalität oder Sportlichkeit ist das Training im Kindesalter durch nichts zu ersetzen.
Kehren wir für einen Moment noch einmal in die Epoche der Jäger und Sammler zurück, in die Welt von vor 100 000 Jahren. Wissen war schon damals ein elementarer Überlebensvorteil. Nur der Kenntnisreiche hatte Erfolg bei der Nahrungssuche: Welche Farbe, Form und Beschaffenheit haben genießbare Beeren? Was unterscheidet sie von ungenießbaren oder giftigen, die ihnen zum Verwechseln ähnlich aussehen? Auf welchem Boden wachsen nahrhafte Getreidekörner? In welchem Baumschatten fühlen sich Speisepilze wohl? Mangelnde Orts- oder Pflanzenkenntnisse verurteilten die Sippe zum Hungern, ein Fehler bei der Nahrungssuche konnte Krankheit oder Tod bedeuten. Überlebenschancen hatten nur Menschen, die die Pflanzen der Umgebung und ihre Nutzbarkeit sehr gut kannten. Dieses Wissen galt es möglichst zu erweitern und zu vertiefen. Unerwartete Erfolge bei der Nahrungssuche, wenn beispielsweise an einer bisher unbekannten Stelle wohlschmeckendes energiereiches Obst gefunden wurde, aktivierten das Belohnungssystem im Gehirn, was nicht nur mit Glücksgefühlen einhergeht, sondern auch dazu führt, dass alles, was zu diesem Erfolg beigetragen hat – wie Ort, Erkennungszeichen, Hinweise –, verstärkt gelernt und abgespeichert wurde: »Come back to this!« Bei einem Misserfolg, zum Beispiel dem Verzehr eines ungenießbaren Pilzes, trat das Gegenteil ein: Unwohlsein, Ekelgefühle, die sich mit dem Lernen von Hinweisen wie Farbe, Form, Geruch, Geschmack verknüpften. Das alles zusammen half, dieses Missgeschick in Zukunft zu vermeiden, durch Vorgänge, die man in den Neurowissenschaften als Vermeidungs- und Aversions-Lernen bezeichnet.
Das so entstandene Wissen der Menschen war kostbar und wurde weitergegeben – von Generation zu Generation. Später kamen weitere Kenntnisse dazu: über den Anbau von Feldfrüchten, das Ziehen von Obstbäumen, Veredlung von Getreidesorten, Viehzucht, Kenntnisse in der Zubereitung durch Kochen, Braten oder Backen, im Einsatz von Salzen,
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