Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
fiel es ihr schon als Mädchen und junge Frau schwer, engere Freundschaften zu knüpfen. In ehrlichen Momenten gesteht sie sich ein, dass sie gar nicht weiß, wie man mit einer Freundin umgeht. Sie beschließt, allein in den Urlaub zu fahren, um sich vom Grübeln abzulenken. Da passiert das Unerwartete: Sie lernt im Hotel eine gleichaltrige Frau kennen, die ihre Interessen teilt, einen ähnlichen Lebensweg hinter sich hat und mit der sie tatsächlich Freundschaft schließt. Die Frau empfindet Glücksgefühle. Auf neurobiologischer Ebene wird der Erfolgsbotenstoff Dopamin in der Amygdala, dem Hippocampus und einem weiteren Areal, dem Nucleus Accumbens, vermehrt freigesetzt. Das löst die uns allen bekannten Glücksgefühle aus, wenn wir zum Beispiel Freunde finden. Dabei spielt wieder ein ähnliches Rezeptor-Paar (das einen in den Wohlfühlbereich leitet) im menschlichen Gehirn eine Rolle, wie wir es für Kortisol und die Temperatursensoren des Pantoffeltierchens schon kennen: nämlich der D1- und der D2-Dopamin-Rezeptor. Im unerwarteten Fall der neuen Freundschaft wird der D1, der erst im Hoch-Dopamin-Bereich anspringt, im Gehirn aktiviert, es stellt sich ein Hochgefühl des Glücks ein. Wesentlich ist aber, dass jetzt im Hippocampus alle Strategien und Programme, die dem Menschen diesen Wohlfühlzustand ermöglicht haben, gesichert und festgeschrieben werden. (In welchem Restaurant fand die erste Begegnung statt? Wie kam der erste Kontakt zustande? Wie waren die Begleitumstände?)
Die beiden Frauen treffen sich im Folgejahr am gleichen Ort und planen bereits das nächste Wiedersehen. Als Frau M. im dritten Jahr bei ihrer Ankunft am Urlaubsort erfährt, dass die Freundin unversehens ihre Buchung storniert hat, ist die Enttäuschung groß. Neurobiologisch geschieht nun Folgendes: Bei den hohen Erwartungen, die sich nicht erfüllt haben, wird unterdurchschnittlich wenig Dopamin in den oben genannten Hirnregionen freigesetzt. Nur noch der D2 wird aktiviert, der im Niedrig-Dopamin-Bereich arbeitet. Das geht mit schlechter Stimmung einher (Enttäuschung). Jetzt wird es spannend: Das alte Verhaltensmuster hätte bei Frau M. wahrscheinlich zu einer Resignation geführt (»Natürlich passiert mir so etwas, mit Freundschaften habe ich noch nie Glück gehabt …«). Da die positive Glückserfahrung aus den vorangegangenen Jahren inzwischen allerdings im Gehirn als gelernt verankert wurde, wird sie nur kurz im Zustand der Enttäuschung verharren. Dann wird ihr Gehirn seinen »Richtungswechsler« einschalten und Strategie Nummer zwei abrufen. Für Frau M. heißt das: Sie wird nach Alternativen suchen, um sich zu einem späteren Zeitpunkt an einem anderen Ort mit der Freundin zu treffen; sie wird vielleicht auf andere Menschen im Hotel zugehen, mit denen sie neue Freundschaften schließen kann. Kurz: Trotz ihrer enttäuschenden Erfahrung ist sie offen für neue Wege. Und das verdankt sie auch dem Präfrontalen Kortex, der als unser »Richtungswechsler« diese Alternativvorschläge mitentwirft.
Im Grunde genommen leben wir also nach einem simplen Schema, das uns schon die Einzeller vorgemacht haben: Sind die Lage und die Stimmung schlecht, sollten wir unser Vorgehen ändern; werden dadurch die Lage und die Stimmung gut, sollten wir das neue Vorgehen beibehalten! Entscheidend ist, dass unsere Gefühle dabei unsere besten Wegweiser sind. Problematisch wird es, wenn wir diese wegweisende Funktion unserer Gefühle nicht nutzen können. Manche Menschen nehmen ihre Gefühle kaum wahr, andere spüren sie zwar, können sie aber nicht differenziert einordnen – sei es durch ihre Erziehung oder durch Lernerfahrungen, die ihnen den Weg zu den eigenen Emotionen verstellen. In der Regel ist es uns gar nicht bewusst, dass sich die Tür zu unserer inneren Gefühlswelt geschlossen hat oder dass wir es selbst waren, die den Schlüssel umgedreht und später vielleicht sogar verloren haben. Dabei lohnt es sich, auf die Suche nach dem Schlüssel zu gehen. Denn ohne Zugang zu unseren wahren Gefühlen und Bedürfnissen laufen wir Gefahr, das rechte Maß zu verlieren. Wir neigen zu Exzessen oder entwickeln Defizite, was sich in einem Unterlassen oder Übertreiben bestimmter Verhaltensweisen ausdrückt. Zum Beispiel arbeiten wir zu viel (Verhaltensexzess), wir ziehen uns sozial zurück oder suchen zu wenig Kontakte (Verhaltensdefizit). Im Grunde sind diese Muster nichts anderes als zweitrangige Lösungsstrategien (sogenannte »secondary solutions«),
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