Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
mit denen wir uns zu beruhigen versuchen.
Auch das bereits erwähnte Comfort Eating ist so eine zweitrangige Verhaltensstrategie, die viele Menschen in wiederholt oder dauerhaft belastenden Lebenssituationen anwenden. Solche Situationen können typischerweise mit Stimmungsschwankungen, depressiven Symptomen und mit einer stressbedingten Brain-Pull-Überlastung einhergehen. Der Energieverbrauch des Gehirns kann in belastenden Situationen so rapide ansteigen, dass es extrem unangenehm für den Betroffenen wird, genügend Glukose aus dem Körper anzufordern. Unter dieser allostatischen Last verlässt der Mensch seinen Wohlfühlbereich, die Stimmung wird schlecht, er fühlt sich aufgeregt und angespannt. Comfort Eating ist dann zwar nicht die optimale Lösung, aber eine naheliegende: Durch das Essen gegen den Frust erhält das Gehirn schnell einen Glukoseschub von außen, was dazu führt, dass die Stressantwort zur inneren Mobilisierung der körpereigenen Reserven nachlassen kann und man sich dadurch fast augenblicklich besser fühlt – ja, sogar getröstet.
Train the Brain
Laurel Mellin arbeitet seit vielen Jahren mit Patienten, die durch Comfort Eating unglücklich und übergewichtig wurden. Kern ihres Therapiekonzeptes ist es, die eigenen Gefühle und Wünsche wahrzunehmen und zu lernen, sich »um sich selbst zu sorgen«. Es ist sehr spannend, was ihren Patienten bei dem Begriff »Self Nurturing« spontan einfällt. Lynn ist eine 39-jährige Krankenschwester mit Übergewicht und einem Dienstplan, der sie bis an ihre Grenzen belastet. Als die Therapeutin ihr den Gedanken der Selbstfürsorge vorstellt, antwortet Lynn spontan: »Mir mal wieder etwas gönnen, das wäre toll – eine Shoppingtour, oder ein Wochenendtrip. Leider geht das alles nicht mehr, seit mein Mann Jake den Job verloren hat …« Lynn denkt an Shopping und Wochenendreisen, aber sind das wirklich ihre inneren Bedürfnisse? Mellin fragt, wie Lynn diese geäußerten Wünsche bewertet und auch wie sich das für sie anfühlt, wenn sie daran denkt. Lynns Reise zur Entdeckung ihrer Gefühlswelt beginnt mit der Erkenntnis, dass Selbstfürsorge nichts ist, was man sich kaufen kann, und dass auch niemand anders dafür zuständig ist als sie selbst. Sich um sich selbst sorgen zu können bedeutet in sich hineinzuhorchen, sich seiner Gefühle gewahr zu werden und seine wahren, inneren Bedürfnisse zu formulieren: Wie fühle ich mich? Was brauche ich wirklich? Benötige ich Unterstützung? Entscheidend ist dabei, dass Lynn lernt, auf ihr Inneres zu hören und sich nicht von künstlich erzeugten Empfindungen (zum Beispiel durch Alkohol, Medikamente oder einen geschickten Verkäufer, der mit »emotionalen Verkaufstechniken« arbeitet) leiten zu lassen. Denn die Gefühle, die durch die eigenen Bedürfnisse von innen her entstehen, zeigen uns an, was wir ändern sollen, die von außen induzierten Empfindungen und Bedürfnisse nicht – im Gegenteil.
Mellin ermuntert ihre Patientin, sich ihren Gefühlen immer wieder zu stellen. Lynn gewinnt auf diese Weise nach und nach neue Einsichten. Sie entdeckt, dass ein Teil ihrer Unzufriedenheit und Wut daher rührt, dass sie sich von ihrer Schwiegermutter nicht respektiert fühlt – aber sie weiß nicht, wie sie ihr Problem darlegen kann, ohne dass die Situation eskaliert. Sie wünscht sich, dass ihr Mann Jake zugewandter ist und sie wenigstens abends gemeinsam essen. Doch statt sich auszutauschen, verharrten beide bislang in frustrierenden Mustern. Ihr wird auch deutlich, wie sehr sie darunter leidet, ihrem Chef gegenüber immer wieder nachzugeben. Sie lässt sich von ihm Sonderschichten und zusätzliche Patienten aufdrücken und findet nicht den Mut, nein zu sagen – aus Furcht, ihren Job zu verlieren. All diese Trauer, der Zorn, die Ängste, die Hilflosigkeit, die Ohnmacht und die Frustrationen wurden in Lynns Leben zunehmend von einer anderen Empfindung überlagert: Hunger! Ihrem egoistischen Gehirn ist es nicht gelungen, eine Lösungsstrategie für Lynns Konflikte zu entwerfen, es hat einzig und allein darauf geachtet, genug Energienachschub zu bekommen. Nach Besuchen bei der Schwiegermutter tröstet sich Lynn mit der Energie aus einem Liter Eiscreme, und wenn der Job zu stressig wird, holt sie sich Nachschub aus dem Süßigkeitenautomaten.
Dieser Kreislauf aus Überforderung, Stress und Comfort Eating lässt sich mit therapeutischen »Train the Brain«-Ansätzen, die auf den Erkenntnissen der
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