Das egoistische Gen
und er besitzt gutes Beweismaterial dafür, daß es wenigstens viermal in unterschiedlichen Blattlausgruppen unabhängig voneinander entstanden ist.
Kurz zusammengefaßt berichtet Aoki das Folgende. Die „Soldaten“ bei Blattläusen sind eine Kaste mit besonderen anatomischen Merkmalen, geradeso wie die Kasten herkömmlicher sozialer Insekten, etwa der Ameisen. Sie sind Larven, die nicht vollständig zu Erwachsenen heranreifen, und sie sind daher steril. Weder sehen sie so aus, noch benehmen sie sich wie die Larven, die ihre Altersgenossen, aber keine Soldaten sind, obwohl sie mit diesen genetisch identisch sind. Soldaten sind größer als Nichtsoldaten, sie haben besonders große Vorderbeine, die sie skorpionähnlich aussehen lassen, und scharfe, nach vorn gerichtete Fortsätze am Kopf. Sie benutzen diese Waffen, um eventuelle Räuber zu bekämpfen und zu töten.
Dabei lassen sie häufig ihr Leben, aber selbst wenn sie nicht sterben, kann man sie als genetisch „altruistisch“ bezeichnen, weil sie steril sind.
Was geschieht hier, wenn man es im Hinblick auf den Egoismus der Gene betrachtet? Aoki erwähnt nicht, was genau bestimmt, welche Individuen zu sterilen Soldaten werden und welche zu normalen fortpflanzungsfähigen Erwachsenen, aber wir können mit Gewißheit sagen, daß es ein umweltbedingter Unterschied sein muß, kein genetischer – schließlich sind die sterilen Soldaten und die normalen Blattläuse auf einer Pflanze genetisch identisch. Doch es muß Gene für die Fähigkeit geben, von der Umwelt auf einen der beiden Entwicklungspfade geschaltet zu werden. Warum hat die natürliche Auslese diese Gene gefördert, obwohl einige von ihnen in den Körpern von sterilen Soldaten enden und daher nicht weitergegeben werden?
Weil dank der Soldaten Kopien eben dieser Gene in den Körpern der sich fortpflanzenden Nichtsoldaten gerettet worden sind! Das Grundprinzip ist genau dasselbe wie bei allen sozialen Insekten (siehe Kapitel 10), mit dem Unterschied, daß bei anderen Gruppen, etwa Ameisen oder Termiten, die Gene in den sterilen „Altruisten“ lediglich eine statistische Chance haben, Kopien ihrer selbst in nichtsterilen Individuen zu helfen. Die altruistischen Gene bei Blattläusen erfreuen sich nicht einer statistischen Wahrscheinlichkeit, sondern haben Gewißheit, da Blattlaussoldaten dem gleichen Klon angehören wie ihre sich vermehrenden Schwestern, denen sie einen Vorteil bringen. In mancher Hinsicht veranschaulichen Aokis Blattläuse im wirklichen Leben überzeugend die Macht von Hamiltons Ideen.
Sollten die Blattläuse also in den exklusiven Klub der echten sozialen Insekten aufgenommen werden, der traditionsgemäß die Bastion von Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten ist?
Konservative Entomologen könnten aus mehreren Gründen gegen sie stimmen. Sie haben zum Beispiel keine langlebige Königin. Außerdem sind die Blattläuse als echter Klon nicht „sozialer“ als die Zellen in unserem Körper. Es ist ein einziges Tier, das an der Pflanze saugt. Sein Körper ist ganz einfach zufällig in einzelne Blattläuse unterteilt, von denen einige eine spezialisierte Verteidigerrolle spielen, geradeso wie die weißen Blutkörperchen im menschlichen Körper. „Echte“ staatenbildende Insekten, so lautet das Argument, arbeiten zusammen, obwohl sie nicht Teil desselben Organismus sind, wohingegen Aokis Blattläuse kooperieren, gerade weil sie zu demselben „Organismus“ gehören. Ich kann mich über diese semantische Frage nicht ereifern. Mir scheint, solange wir verstehen, was bei Ameisen, Blattläusen und menschlichen Zellen vor sich geht, sollten wir die Freiheit haben, sie nach Belieben sozial zu nennen oder nicht. Was meine eigene Wortwahl betrifft, so habe ich Gründe dafür, Aokis Blattläuse als sozial lebende Organismen und nicht als Teile eines einzigen Organismus zu bezeichnen. Es gibt grundlegende Eigenschaften eines Organismus, die eine einzelne Blattlaus besitzt, ein Blattlausklon aber nicht. Ausführlich behandelt wird dieser Gedankengang in meinem Buch The Extended Phenotype , und zwar in dem Kapitel Rediscovering the Organism , sowie in Kapitel 13 des vorliegenden Buches.
4 Die Verwirrung über den Unterschied zwischen Gruppenselektion und Familienselektion ist nicht verschwunden. Sie mag sogar noch zugenommen haben. Ich stehe mit Nachdruck zu meinen Bemerkungen, habe allerdings selbst durch eine gedankenlose Wortwahl – die ich nun korrigieren möchte – in der ersten Auflage
Weitere Kostenlose Bücher