Das egoistische Gen
Jahre 1976 mein Herz für die richtige Sache schlug.
6. Genverwandtschaft
1 Hamiltons Veröffentlichungen aus dem Jahre 1964 werden heute nicht mehr übergangen. Die Geschichte ihrer Mißachtung und anschließenden Anerkennung bildet selbst einen Gegenstand für eine interessante quantitative Untersuchung, eine Fallstudie über die Eingliederung eines „Mems“ in den Mempool. Ich zeichne die Fortschritte dieses Mems in den Nachbemerkungen zu Kapitel 11 nach.
2 Die Annahme, daß wir über ein Gen sprechen, das in der Population insgesamt selten ist, war ein Trick, um die Messung des Verwandtschaftsgrades leichter erklären zu können.
Eine der wichtigsten Leistungen Hamiltons lag gerade darin zu zeigen, daß seine Schlußfolgerungen ungeachtet dessen eintreten, ob das betreffende Gen selten oder weit verbreitet ist.
Es zeigt sich, daß dieser Aspekt der Theorie für viele schwer zu verstehen ist.
Das Problem der Messung von Verwandtschaftsgraden bringt viele von uns auf die folgende Weise ins Stolpern. Zwei beliebige Artgenossen, ob sie derselben Familie angehören oder nicht, haben gewöhnlich mehr als 90 Prozent ihrer Gene gemeinsam. Was meinen wir dann, wenn wir davon sprechen, daß der Verwandtschaftsgrad unter Brüdern 1/2 beträgt oder unter Vettern ersten Grades 1/8? Die Antwort lautet, daß Geschwister über die 90 Prozent hinaus (oder wieviel Prozent es auch immer sind), die alle Individuen in jedem Fall teilen, noch die Hälfte ihrer Gene gemeinsam haben. Es gibt eine Art Grundverwandtschaft zwischen allen Angehörigen einer Art, in geringerem Ausmaß sogar zwischen Angehörigen verschiedener Arten. Altruismus ist unter Individuen zu erwarten, deren Verwandtschaft enger als die jeweilige Grundverwandtschaft ist.
In der ersten Auflage umging ich das Problem, indem ich den Trick benutzte, über seltene Gene zu sprechen. Dies ist soweit korrekt, reicht aber nicht aus. Hamilton selbst spricht von Genen, die „durch Abstammung identisch“ sind, doch dies bringt Schwierigkeiten eigener Art mit sich, wie Alan Grafen gezeigt hat. Andere Wissenschaftler gaben in ihren Schriften nicht einmal zu, daß hier ein Problem besteht, und sprachen einfach von absoluten Prozentsätzen gemeinsamer Gene, was entschieden und unzweifelhaft ein Fehler ist. Derart gedankenloses Gerede hat in der Tat zu ernsthaften Mißverständnissen geführt. Beispielsweise argumentierte ein bekannter Anthropologe im Verlauf einer 1978 veröffentlichten bitterbösen Attacke auf die „Soziobiologie“, wenn wir Verwandtschaftsselektion ernst nähmen, müßten wir erwarten, daß alle Menschen altruistisch zueinander sind, da alle Menschen mehr als 99 Prozent ihrer Gene gemeinsam haben. Ich habe in meiner Veröffentlichung Twelve Misunderstandings of Kin Selection eine kurze Antwort auf diesen Irrtum gegeben (er entspricht Mißverständnis Nummer 5). Die anderen elf Mißverständnisse sind ebenfalls einen Blick wert.
Alan Grafen liefert in seinem Aufsatz Geometric View of Relatedness die möglicherweise definitive Lösung für das Problem der Messung des Verwandtschaftsgrades, die ich hier nicht darzulegen versuchen werde. Und in einer anderen Arbeit, Natural Selection, Kin Selection and Group Selection , klärt Grafen ein anderes weit verbreitetes und wichtiges Problem, nämlich die häufig falsche Anwendung von Hamiltons Begriff der inclusive fitness. Er zeigt uns außerdem, wie man Kosten und Nutzen für genetische Verwandte richtig beziehungsweise falsch berechnet.
3 Von der Gürteltierfront ist nichts Neues zu berichten, doch über eine andere Gruppe von „klonbildenden“ Tieren, die Blattläuse, hat man aufsehenerregende neue Fakten herausgefunden.
Es ist seit langem bekannt, daß manche Blattläuse sich sowohl ungeschlechtlich als auch geschlechtlich fortpflanzen.
Wenn wir zahlreiche Blattläuse auf einer Pflanze sehen, so sind sie mit relativ großer Wahrscheinlichkeit alle Angehörige eines identischen weiblichen Klons, wohingegen jene auf der danebenstehenden Pflanze zu einem anderen Klon gehören. Theoretisch sind diese Bedingungen ideal für die Evolution von verwandtschaftsselektiertem Altruismus. Doch war kein Fall von Altruismus bei Blattläusen bekannt, bevor Shigeyuki Aoki im Jahre 1977 bei einer japanischen Blattlausart sterile „Soldaten“ entdeckte – nur ein wenig zu spät, um in die erste Auflage dieses Buches Eingang zu finden. Seither hat Aoki das Phänomen in einer Reihe anderer Arten vorgefunden,
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