Das Ekel von Datteln
gespannte Aufmerksamkeit, aber seine Gedanken waren weit weg.
Was ihn am meisten ärgerte, war irgendeine Schlamperei auf dem Instanzenweg von Interpol. Die Holländer hatten die Leiche freigegeben, aber bis auf den Totenschein fehlten sämtliche Papiere.
Eine Stunde später sammelte Brennecke die Texte ein und warf den Kopierer an: Jeder sollte von jedem Traktat ein Exemplar bekommen. Lohkamp ließ allen noch eine Viertelstunde Zeit zum Lesen, dann begann die Diskussion.
Kriminaloberkommissar Hänsel, fünf Jahre älter als Lohkamp und offenbar schon mit Krawatte auf die Welt gekommen, war der Ansicht, dass sie zu engmaschig gearbeitet hätten. Da ihm die vorhandenen Motive zu dünn und die Alibis zu dicht waren, plädierte er für völlig neue Fragestellungen.
»Wie sah das Privatleben der Frau aus?«, stand da. »Wir haben – außer den nachehelichen Kontakten mit Helmut M. und der letzten Nacht auf Vlieland – keine weiteren Sexualbeziehungen festgestellt. Eine solche Abstinenz erscheint mir bei einer Frau ihres Alters, die zudem zeitweilig sexuell sehr aktiv gewesen ist, recht unwahrscheinlich. Meine These: Wir müssen den Mann (die Frau?) finden, mit dem (der) sie in den letzten Monaten ihre Nächte verbracht hat.«
»Das hast du aber schön formuliert«, meinte Steigerwald, ein fünfundfünfzigjähriger Hauptkommissar, der Hänsel als einziger duzte.
»Es gibt viele Menschen, die oft über Jahre keine sexuelle Beziehungen unterhalten«, erklärte er dann. »Manche schotten sich sogar regelrecht dagegen ab. Die kompensieren das, was ihnen emotional fehlt, mit anderen Aktivitäten. Und als Ersatz kommt praktisch alles in Frage, was betäubt oder das Selbstwertgefühl steigert. Vom Saufen bis zum Krimischreiben. Ruth Michalski hat das mit ihrem Job kompensiert – da halte ich jede Wette.«
Zusammen mit Brennecke war er der Ansicht, dass der Täter oder das Motiv bereits in den Akten erfasst waren, sie selbst aber bei der Auswertung irgendetwas übersehen oder falsch gedeutet hatten.
»Jemand hat uns belogen«, fügte der Kriminalmeister hinzu. »Vielleicht sogar alle.«
»Erlauben Sie mal«, sagte Hänsel. »Sie wollen doch nicht ernsthaft behaupten, dass ein kranker, alter Mann wie Puth …«
Lohkamp winkte ab und ließ Martina Langer reden.
Die Kommissarin war im Prinzip der gleichen Meinung wie Steigerwald und Brennecke: »Wir haben die Aussage des Exgatten viel zu wenig beachtet. Die fehlenden Akten enthielten sicher die Lösung. Wir sollten deshalb a) alle Chefs von Ruth Michalski durchleuchten (Strafsachenkartei), b) in Datteln nach vergessenen oder vertuschten Skandalen suchen, von denen sie gewusst haben kann.«
Lohkamp selbst war vorsichtiger. Alles sah nach einem Dattelner Lokaldrama aus – aber sie hatten praktisch nichts in der Hand.
»Wir müssen auf schnellstem Wege das Material der Holländer besorgen und zwei Fragen klären: Warum ist Ruth M. nach Holland gefahren? Wer hat sie dort so schnell aufspüren können? Die Antworten bringen uns wahrscheinlich auf die richtige Spur.«
Eine halbe Stunde später hatten sie die Arbeit neu aufgeteilt: Hänsel durfte noch einmal Verwandte und Bekannte unter die Lupe nehmen und dabei auch den unsichtbaren Liebhaber suchen, Kommissarin Langer und Steigerwald sollten Dattelns Innenleben erforschen, Hänsel wollte die INPOL-Karteien durchkämmen, und Brennecke streckte seine Fühler zur Rijkspolitie aus.
»Und Sie, Chef?«
»Lesen!«, sagte er und deutete auf den Aktenstapel, den ihm sein Vorgänger hinterlassen hatte.
Der Mann in Holland, den Brennecke am Nachmittag am Telefon erwischte, hieß de Jong, sprach recht gut Deutsch und war perplex, dass die Akten noch nicht in Recklinghausen waren: »Wir haben vor zehn Tagen die Kopien unserer Unterlagen und das Gepäck der Toten in einem versiegelten Container losgeschickt. Moment mal …«
Minutenlang rauschte es in der Leitung, dann meldete sich der Major erneut: »Das ist alles ans Innenministerium gegangen. Die senden das über Interpol weiter …«
Nach zehn weiteren Telefonaten hatte Brennecke den gegenwärtigen Standort der Unterlagen aufgespürt: Sie lagen bereits beim Landeskriminalamt und sollten irgendwann im Laufe der Woche …
»Fahr«, sagte Lohkamp. »Und hol das Zeug her!«
Halb sechs am Nachmittag war der Kriminalmeister wieder da: Zusammen mit einer Streifenwagenbesatzung schleppte er Ruth Michalskis Hinterlassenschaften herein: einen Samsonite- Koffer, eine Handtasche
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