Das Elixier der Unsterblichkeit
Schuldscheinen, Abrechnungen und Berichten stand, auf sein Sehvermögen geschlagen war. Vielleicht war es das regelmäßige Lesen des
Elixiers der Unsterblichkeit
, das ihm dennoch Seelenfrieden verlieh. Nacht um Nacht vertiefte er sich in jedes Detail der Arbeit Benjamins, wie unbedeutend es auch scheinen mochte, denn er wusste, dass es später wichtig sein konnte für das Verständnis des Ganzen.
Am Silvesterabend war Rudolf bei der Familie Spinoza eingeladen. Es war das erste Mal. Nie zuvor hatte er seinen Fuß in ihr Haus gesetzt, das neben dem Schloss lag. Auch wenn der Ton zwischen Jakob und Rudolf fast freundschaftlich war, trafen sie sich nie privat. Doch wann immer Rudolf Hilfe benötigte, konnte er mit Jakob rechnen. Es war Jakobs feste Überzeugung, dass man den anderen stets ein warmherziges Lächeln zuwenden sollte, das Beste von den Menschen denken und ihnen immer eine helfende Hand reichen. Aus Mitgefühl für das blinde Mädchen lud er seinen Arbeitgeber und dessen Tochter zum Essen ein, was zur damaligen Zeit alles andere als üblich war. Er tat es für Ariadne. Jakob und Eleonora tat das Kind leid, das im Schloss so einsam wirkte.
In Jacobs Haus gab es Kindergeschrei und ungehemmte Lebensfreude. Mit tiefem Gefühl, wenn auch mit rostiger Stimme, führte Jakob Familie und Gäste beim gemeinsamen Singen nach dem Essen an. Erst zwanzig Minuten nach Mitternacht wünschten alle einander ein gutes neues Jahr.
Rudolf und Ariadne wanderten in der nächtlichen Kälte stumm zurück zum Schloss. Er mit Kopfschmerzen, denn dies war mehr menschlicher Kontakt gewesen, als er vertrug. Sie mit einer größeren Freude im Herzen, als sie seit langem empfunden hatte, denn endlich hatte sie Freunde gefunden.
Rudolf wandte sich an Jakob mit der dringenden Bitte um Hilfe und Rat. Er war blass wie unvergorener Teig und hatte viele Nächte nicht geschlafen. Er sagte, er vermisse einen Vertrauten, vielleicht einen Vater, mit dem er reden könne. Es sei nicht leicht für ihn, gab er zu, Jakob sein Inneres zu öffnen. Doch er hoffe, ein paar praktische Ratschläge zu bekommen, auch wenn er nicht erwarte, dass Jakob ihn verstehe, denn er sei ein Mann, der seine Kinder liebe, für ihn seien sie ein Segen, während er selbst unter den Widrigkeiten der Vaterschaft leide. Er berichtete, dass Ariadne so rebellisch und halsstarrig sei, trotz ihrer Blindheit, dass sie sich kaum ein paar Minuten in einem Raum aufhalten könnten, ohne in Streit zu geraten. Das Zusammensein mit ihr sei unerträglich, da sie anstrengender sei, als ihre Mutter es jemals gewesen war. Sie lege einen solchen Erfindungsreichtum an den Tag, wenn es darum gehe, ihn zu erzürnen, dass man zu drastischeren Maßnahmen greifen müsse, um sie zu stoppen, als ihm zur Verfügung stünden.
Rudolf räumte ein, dass er sich selbst für seine Schwäche verachte, doch sei ihm erschreckend klar, dass er es nicht mehr aushalte, Ariadne im Schloss zu haben. Er habe Angst, eines Tages die Beherrschung zu verlieren und dem Mädchen Schaden zuzufügen. Was solle er tun? Ariadne sei schließlich seine Tochter, seine einzige Verwandte. Obwohl er es mit dem Mädchen so schwer habe, quäle ihn jeden Tag der Gedanke, sie zu verlieren.
Jakob saß eine Weile schweigend. Dann schlug er ohne Umschweife vor, dass Ariadne in sein Haus zu seiner Familie ziehen solle. Was das Mädchen brauche, so glaube er, seien Freunde, andere Kinder, mit denen sie spielen konnte. Rudolf antwortete, dass Jakob sicherlich recht habe, denn seit dem Silvesterabend hatte sie jeden Tag darum gebettelt, die Spinoza-Kinder wiederzutreffen, und damit gedroht, sonst jedes einzelne Fenster im ganzen Schloss zu zerschmettern.
Somit war die Sache beschlossen. Rudolf bat einen Diener, dafür zu sorgen, dass das Kammermädchen Ariadnes Habseligkeiten zusammenpackte.
Ariadne war überglücklich, bei Jakob und Eleonora zu wohnen. Sie spielte mit den jüngsten Kindern, Andreas und Claudia, für die sie eine große Schwester war, und lernte gemeinsam mit dem gleichaltrigen Nikolaus. Doch am nächsten stand ihr der älteste Sohn Bernhard. Sie bekam viel Aufmerksamkeit und hatte das Gefühl, als Familienmitglied betrachtet zu werden. Sie zeigte Jakob und Eleonora mehr Ergebenheit, als sie ihrem Stiefvater und der Stiefmutter jemals erwiesen hatte, und sie nannte Andreas und Claudia ihre kleinen Geschwister. Einige Jahre später nahm sie auch den Nachnamen der Familie an, den sie mit Stolz und Freude trug bis zu ihrem
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