Das Ende der Geschichten (German Edition)
versuchte ein weiteres Mal, die Notizbuch-Idee zusammenzufassen. Dann las ich alles, was ich geschrieben hatte, noch einmal durch und stellte fest, dass ich eigentlich nicht in der Position war, solche Dinge zu schreiben: Genauso gut hätte ich versuchen können, mein Leben nach dem Tod zu planen. Ich löschte die Mail wieder und schrieb nur ein paar Zeilen, in denen ich ankündigte, mein Möglichstes zu tun, um den Roman noch in diesem Jahr fertigzustellen. Wenn ich ihn erst mal geschrieben hatte, würde er für sich selber sprechen.
Als ich gerade anfangen wollte, im Internet nach griechischen Inseln zu suchen, hörte ich das kurze Piepsen, das mir eine neue E-Mail ankündigte. Hatte mein Agent etwa schon geantwortet? Ich wechselte vom Browser zum Posteingang und fand eine Nachricht von Rowan. Der Betreff lautete: «Mittagessen?» Die Mail selbst war kurz, doch während ich sie las, fühlte ich mich, als drehte sich ein Feuerrad in mir. Er entschuldigte sich, dass er gestern auf der Fähre so «komisch» gewesen sei; ob ich nächste Woche nicht vielleicht doch irgendwann Zeit für ein Mittagessen hätte? Ich wusste nicht, was ich antworten sollte: ja oder nein ? Sollte ich vielleicht eine aristotelische Umkehrung einbauen und ihm schreiben, ich hielte das für keine gute Idee, oder einfach ja sagen und das Flaschenschiff zur Rechtfertigung mitnehmen?
In meinem Orb-Books-Konto fanden sich etliche Mails von Redaktionsmitgliedern und etablierten Ghostwritern, die sich zu der Frage von Zebs Entstellung äußerten. Anscheinend waren ihnen dabei die Pferde ein bisschen durchgegangen, und Claudia hatte eine weitere Mail geschickt, in der sie uns alle ermahnte, nicht so kindisch zu sein. Sie rief uns in Erinnerung, dass Zeb eine plausibel entwickelte Figur auf der Basis von Ursache und Wirkung werden solle und nicht einfach nur von «ein paar Außerirdischen in Gestalt von Wasserhähnen entführt» worden sein könne. Als Anregung formulierte sie ein paar Fragen: Konnte Zeb vielleicht etwas aus seiner Behinderung gelernt haben? Wie beeinflusste sie sein Schreiben? Mit welchen alltäglichen Schwierigkeiten hatte er zu kämpfen, und wie wirkten die sich auf seinen Charakter aus? Darauf hatte jemand praktisch postwendend geantwortet: Gut, dann ist Zeb also in den Neunzigern noch ein strunzdoofes reiches Jüngelchen mit einem Porsche. Eines Tages kommt er gerade vom Mittagessen mit einer schönen jungen Frau zurück und will ins Fitnessstudio, um sein ansehnliches Sixpack zu stählen, als er plötzlich einen Platten hat. Er hält am Straßenrand, um den Reifen zu wechseln, da hört er ein leises Kläffen, das aus dem nächsten Stromhäuschen zu kommen scheint. O nein! Ein Welpe! Zeb eilt herbei, um das Hündchen zu retten. Dabei kriegt er ein paar tausend Volt oder Ampère ab oder was eben so aus einem Stromhäuschen kommt, und ist fortan ganzkörpergelähmt. Im Krankenhaus hört er Audiobücher, die ihm aus der Krise helfen, und so beschließt er, anderen zu helfen, indem er selbst Bücher schreibt, was er aber nur noch mit WIMPERNBEWEGUNGEN tun kann. Oder zumindest muss er sie diktieren; aber vielleicht hat er ja auch die Stimme verloren … Jemand anders schrieb darauf: Guter Ansatz – aber die Reifenpanne geht zu sehr in Richtung zufälliger Akt Gottes. Vielleicht eine etwas episodischere Gestaltung? Was veranlasst Z. überhaupt dazu, den Welpen retten zu wollen? Hatte er als Kind vielleicht selbst einen Welpen, bevor er all den Kram für reiche Jüngelchen bekam, der ihn hohl und abgestumpft gemacht hat? Will er wieder zu diesem ursprünglichen Zustand zurückfinden? Daraufhin hatte Claudia noch einmal daran erinnert, dass die Behinderung doch eigentlich eher eine schlichte Verunstaltung sein sollte, so wie ursprünglich vereinbart, und Zeb einen zusätzlichen Reiz verleihen müsste. Denkt mal etwas mehr in Richtung Harry Potters Narbe, Leute, nicht sosehr in Richtung Glöckner von Notre Dame! , schrieb sie. Es muss etwas sein, das man unter ›Unveränderliche Kennzeichen‹ aufführen würde, wenn man ein Visum beantragt. Und Zeb Ross schreibt seine Bücher KEINESFALLS mit Wimpernbewegungen.
Nach dem Mittagessen fühlte ich mich ein bisschen schläfrig und hatte es satt, auf den Notebookbildschirm zu starren. Rowans Mail hatte ich immer noch nicht beantwortet. Mein Roman bestand weiterhin nur aus vierzig Wörtern. Ich klappte das Notebook zu und legte es auf den Tisch. Wenn Christopher im Haus war, spielte ich
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