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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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hinzuziehen, und ich musste ihr schwören, meinen Eltern nichts davon zu erzählen. Ihr Vater war offenbar der Ansicht, mein Vater würde das nicht gutheißen. Natürlich fand mein Vater es trotzdem heraus, vermutlich über Caleb. Er reagierte ganz und gar nicht ablehnend, zumindest nicht direkt. Seiner Meinung nach war der Poltergeist der kollektiven Einbildung der Coopers entsprungen, und wenn sie glaubten, einen Exorzisten zu brauchen, um ihn wieder aus ihren Köpfen zu entfernen, dann war das sicher genau das Richtige. Meine Mutter erkundigte sich, wie etwas Eingebildetes denn Bücher aus dem Regal werfen und durch den Raum fliegen lassen sollte, und mein Vater erwiderte nur, das passiere ja gar nicht. Meine Mutter sagte: «Aber wir hören es doch jede Nacht», und er entgegnete: «Wir wissen nicht, was wir da hören.» So wanderten meine Gedanken weiter, während ich die Lanes entlangfuhr. Mir begegneten keine anderen Autos, keine Menschen, keine Tiere. Ich dachte daran, wie wir einmal in den Ferien über ganz ähnliche Straßen gefahren waren, und plötzlich hatte mein Vater angehalten, die Scheinwerfer ausgeschaltet und uns alle aufgefordert, in die Dunkelheit hinauszuschauen. «Ich wette, solche Dunkelheit habt ihr noch nie gesehen», hatte er gesagt. Dann waren wir ausgestiegen und hatten zu den Sternen hinaufgeschaut, und mein Vater hatte die Hände in die Taschen geschoben, sich weit zurückgelehnt und erklärt: «So ist es also, auf einem Planeten zu leben!»
    Ich hatte seit über zehn Jahren nicht mehr mit meinem Vater gesprochen, wusste aber, dass er inzwischen einen Lehrstuhl an der Universität übernommen hatte. Als er mein ESP-Buch fand und meine Experimente entdeckte, war er längst nicht so böse geworden, wie ich befürchtet hatte. Stattdessen setzte er sich mit mir hin und zählte mir stundenlang, weit über die Schlafenszeit hinaus, sämtliche Gründe auf, warum es albern sei, an übersinnliche Phänomene zu glauben. Ich versuchte, ihn zu widerlegen. Ich erzählte ihm, dass man in China versuche, anhand der Vorahnungen von Tieren herauszufinden, wann ein Erdbeben drohte, und dass die Queen einen eigenen Homöopathen habe. Er wollte von mir wissen, wieso dann in der langen Geschichte der ganzen weiten Welt noch nie ein übersinnliches Phänomen zweifelsfrei bewiesen worden sei. Ich erwiderte eingeschüchtert, was ich darüber in meinem ESP-Buch gelesen hatte: dass nämlich übersinnliche Ereignisse nicht mehr ganz so gut funktionieren, wenn man sie beobachten und überprüfen will. Anschließend brach ich in Tränen aus, weil ich so müde und überfordert war. Doch anstatt mich zu trösten, wie ich das erwartet hatte, sagte mein Vater mit kalter Stimme: «Du bist genau wie deine Mutter.» Dann ging er aus dem Zimmer. Und ich wusste, dass ich ihn für immer verloren hatte.
    Kurze Zeit später verkündete Caleb, er wolle zum Hinduismus übertreten, weil er in einem Buch gelesen hatte, wir seien alle «der Tanz Gottes». Mrs. Cooper und meine Mutter waren ganz und gar nicht damit einverstanden und sprachen beim Tee über düstere Dinge wie die Unterdrückung der Frau und das Kastensystem, das einen dazu zwinge, einen Mann mit höheren Qualifikationen zu heiraten, auch wenn man selbst einen Doktortitel habe. Mein Vater hingegen war einer angeregten Diskussion über den Sinn des Universums nie abgeneigt – vorausgesetzt, er konnte sie mit Caleb führen. Eines Tages sah ich die beiden bäuchlings auf der Terrasse der Coopers liegen und durch die Katzenklappe schauen. Rosa berichtete mir später, sie hätten ein Experiment durchgeführt. Caleb hatte gesagt, unser heutiges Verständnis vom Universum sei so, als sähe man durch ein kleines Loch eine Katze vorbeigehen. Zuerst sehe man den Kopf, dann den Körper und zum Schluss den Schwanz, nie aber die vollständige Katze. Man könne also glauben, der Kopf sorge dafür, dass der Körper auftauche, und der Körper dafür, dass der Schwanz erscheine, dabei sei es doch eigentlich nur eine ganze Katze, die nichts an Ursache und Wirkung zu bieten habe als ihre bloße «Katzenhaftigkeit». Mein Vater hielt geduldig dagegen, dass aus dieser Perspektive der Kopf doch tatsächlich den Körper nach sich ziehe et cetera und man, wenn man eine Katze durch ein kleines Loch beobachte, niemals zuerst ihren Körper, dann den Kopf und schließlich den Schwanz sehen werde. Das allerdings liege nicht an irgendeiner mysteriösen «Katzenhaftigkeit», sondern daran, dass

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