Das Ende der Geschichten (German Edition)
weißen Lamellen. Der Wiesenchampignon schmeckt gut zu Toast, der Knollenblätterpilz führt zum Tod, wenn man ihn isst. Das wusste ich bereits, weil ich manchmal mit Libby und Bob in die Pilze ging. Bob sammelte aus Prinzip nichts mit weißen Lamellen, weil er sich vor dem Knollenblätterpilz fürchtete. Libby hingegen behauptete, unterscheiden zu können, welche Pilze mit weißen Lamellen giftig waren und welche nicht, und sammelte alles, was ihr gefiel. Ein Freund von ihnen war an die Dialyse gekommen, nachdem er Pilze gegessen hatte, die er für Pfifferlinge hielt, obwohl es sich in Wahrheit um hochgiftige Spitzgebuckelte Rauköpfe handelte. Doch nicht einmal das hatte dazu geführt, dass Libby sich Gedanken machte, sie könnte irgendwann einmal Pilze verwechseln. Ich konnte mir nicht vorstellen, an einer Pilzvergiftung zu sterben, und legte den Kalender wieder weg.
«Gut», sagte ich. «Dann gehe ich jetzt mal und …»
Josh erschauerte. «Macht’s dir was aus, wenn wir noch ein, zwei Minuten hier stehenbleiben, bevor du sie anfasst? Ich muss mich noch ein bisschen wappnen. Ich denke, wir können uns einfach noch ein Weilchen die Kalender ansehen.»
«Gut. Sag mir einfach, wenn du so weit bist.»
«Habe ich dir eigentlich schon mal den Witz von der Flut erzählt?»
«Nein, ich glaube nicht. Lass hören.»
«Ein strenggläubiger Mann hört, dass eine Flut bevorsteht. Sein ganzes Dorf wird evakuiert, doch als man ihn fragt, ob er nicht auch fort will, sagt er: ‹Gott der Herr wird mich retten.› Die Flut kommt, und das Wasser steigt immer höher und höher. Irgendwann sitzt der Mann oben auf seinem Dach. Ein Boot kommt, um ihn zu holen, doch der Mann weigert sich einzusteigen. ‹Gott der Herr wird mich retten›, erklärt er, und das Boot fährt wieder davon. Schließlich steigt das Wasser so hoch, dass nur noch ein winziges Stück vom Dach übrig ist. Ein Hubschrauber fliegt herbei und lässt dem Mann eine Strickleiter herunter, doch der winkt nur ab. ‹Schon gut!›, ruft er hinauf. ‹Gott der Herr wird mich retten.› Am Ende ertrinkt er und kommt in den Himmel. Als er dort eintrifft, ist er ziemlich stinkig. Er geht direkt zu Gott und will wissen, warum er ihn hat sterben lassen. ‹Ich dachte, du würdest mich retten!›, sagt er. ‹Na ja›, meint Gott der Herr. ‹Versucht habe ich’s ja. Ich habe dir die Warnung zukommen lassen, dann habe ich dir ein Boot geschickt und dann sogar noch einen Hubschrauber. Was hättest du denn noch gewollt?›»
Ich lachte. «Der ist gut. Oh … apropos Himmel. Ich habe dir die Zweitwelt mitgebracht.»
«Danke.»
«Sie liegt noch draußen im Wagen, bei Bess. Ich hoffe nur, sie hat es nicht aufgefressen.»
«Das hoffe ich allerdings auch.»
Die Glöckchen über der Ladentür bimmelten, und ich drehte mich um. Milly war hereingekommen.
«Hallo», begrüßte sie mich.
«Hallo», erwiderte ich. «Er kann sich nicht umdrehen.»
«Hallo, Milly …» Josh drehte ihr weiter den Rücken zu. «Entschuldige, dass ich dich schon wieder angerufen habe. Vielen, vielen Dank … Wie geht’s dir?»
Während er noch redete, sah Milly mich mit fragendem Stirnrunzeln an, und ich deutete mit dem Kopf auf die Karten. Sie nickte. Natürlich erkannte auch sie gleich, wo das Problem lag. Milly war jünger als ich, sogar noch jünger als mein Bruder Toby, doch sie wirkte völlig alterslos. Sie hatte glänzendes rotes Haar und hellgraue Augen. Obwohl sie keinerlei Falten hatte, wirkte ihr Gesicht kein bisschen kindlich. Wir hatten uns im Jahr zuvor bei dem Fest zu Peters fünfundsechzigstem Geburtstag kennengelernt. Christopher war krank gewesen und hatte nicht daran teilnehmen können, und so war ich allein hingegangen und hatte Josh und Peter bei den Vorbereitungen geholfen. Milly hatte Harfe gespielt. Nachdem die anderen Gäste weg waren, saßen wir noch zu viert zusammen, tranken Espresso aus Peters Kaffeemaschine, lachten über Joshs Witze und unterhielten uns über unsere Pläne für das kommende Jahr. Peter wollte sein nächstes Examen in Musiktheorie ablegen und anfangen, das Café auch abends zu öffnen. Josh hatte vor, endlich seine Universaltheorie aufzuschreiben und mit einer weiteren Zahl Frieden zu schließen. Und Milly sagte, sie wolle nähen lernen und ihre eigenen Kleider schneidern. Eigentlich fühlte es sich eher an wie ein Silvesterabend als wie ein Geburtstagsfest. Ich hatte erklärt, ich wolle meinen Roman fertig schreiben; mehr war mir nicht
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