Das Ende der Geschichten (German Edition)
sich mal nicht so gut fühlt. Becca meldet sich immer nur, wenn sie etwas will oder wenn sie sich mal wieder mit ihrem Mann gezankt hat und ein paar Tage flüchten will. Eigentlich interessiert sie sich gar nicht für Peter. Aber irgendwie versetzen ihn seine Kinder ständig in Panik. Er will mich ja gar nicht verletzen, aber er tut es am laufenden Band, weil sie ihn in diese unmögliche Lage drängen. Er kann Becca beispielsweise nicht einfach sagen, dass sie ein andermal kommen soll, weil ich Geburtstag habe, weil er weiß, dass sie dann fragt: ‹Ach, wie alt wird sie denn dieses Jahr? Siebzehn?›»
«Ich begreife einfach nicht, warum sie überhaupt solche Probleme mit eurer Beziehung haben», sagte ich. «Schließlich ist ihre Mutter nicht erst seit letzter Woche tot. Sie müssen ihm doch erlauben, neu anzufangen.»
Ein Windstoß fegte die High Street entlang, und ich knöpfte meinen Anorak zu. B. hatte sich auf dem Schoß von Milly zusammengerollt, die in einer Hand ihren Kaffee hielt und mit der anderen den Hund streichelte. Wäre B. eine Katze gewesen, sie hätte wohl geschnurrt.
«Sie wollen das nicht, weil es ihnen unangenehm ist», erklärte Milly. «Sie wollen sich ihre Geburtstage, ihre Weihnachtsfeste und ihre anderen Feiertage nicht davon verderben lassen, dass sie sich vorstellen müssen, wie ich mit ihrem Vater im Bett liege. Darauf läuft es letztlich hinaus. Eigentlich leben wir nämlich in einer furchtbar spießigen Welt. Becca hat Autorität auf dem Gebiet, weil sie sich anpasst, weil sie ein schönes, großes Haus besitzt – zumindest stelle ich mir das so vor – und eine Putzfrau, schöne Möbel, einen Mann und drei süße Kinder. Und das alles gibt ihr das Recht, mich zu verurteilen und darüber zu entscheiden, wie ich leben soll. Aber weißt du, das eigentlich Traurige ist ja, dass sie und Christopher einfach nicht verstehen, dass Geist nicht altert. Mit fünfundsechzig ist man im Grunde noch derselbe Mensch, der man mit achtundzwanzig war, nur mit mehr oder weniger Erfahrung und mehr oder weniger Weisheit. Peter kann manchmal furchtbar kindisch sein, und obwohl er insgesamt sicher mehr weiß als ich, sind wir doch absolut auf Augenhöhe, wenn es um die wirklich wichtigen Dinge geht. Und wenn wir über Musik reden, ist es, als wäre ich die weise alte Frau und er nur ein kleines Kind. Er kriegt ja nicht mal eine Molltonleiter hin. Es ist also alles im Fluss. Wenn Becca und Ant fünfundsechzig sind, werden sie auch noch weitgehend dieselben Menschen sein, die sie mit achtundzwanzig waren. Es wäre also gar kein Unterschied, wenn jetzt schon einer von ihnen achtundzwanzig und der andere fünfundsechzig wäre. Und bei Christopher ist es genauso. Wäre er etwa nicht mit dir zusammen, wenn du sechzig wärst oder zwanzig?»
Ich stellte mir vor, mit Christopher zusammenzubleiben, bis wir beide über sechzig waren, und mir wurde klar, dass ich mich dann doch lieber erschießen würde. Ich sagte Milly nichts davon, doch ich war mir sicher, dass es zwischen Christopher und mir niemals funktioniert hätte, wenn einer von uns beiden sehr viel älter oder sehr viel jünger als der andere gewesen wäre. Ende dreißig zu sein gehörte zu den wenigen Dingen, die wir noch gemeinsam hatten, so wie der Umstand, dass wir bereits zusammen waren und die Trägheit eben größer war als die Entropie. Ich musste daran denken, wie ich mit Rowan das erste Mal im Lucky’s gewesen war: Als ich seine braungebrannten, alterslosen Unterarme auf dem Tisch ruhen sah, wurde mir bewusst, dass ich sie gern berührt hätte. Das hatte mich überrascht, weil ich ältere Männer eigentlich nie übermäßig anziehend gefunden hatte. Erst als mir auffiel, wie alterslos seine Arme waren, wurde mir klar, dass er ein Mann war wie jeder andere auch, dass auch er Gefühle, Erinnerungen, Hoffnungen und ein Herz hatte – und einen nackten Körper, gleich da unter den Kleidern.
«Peter hat mir erzählt, er würde Christopher sagen, dass er nicht mehr kommen soll», sagte ich.
«Tatsächlich?»
«Ja.»
Milly schaute zum Himmel hinauf, der langsam dunkler wurde; dann sah sie wieder zu mir hin.
«Und? Hat er es ihm auch wirklich gesagt?»
Ich dachte an die Karte mit den Genesungswünschen und dem Zwanzig-Pfund-Schein, die am Morgen in der Post gewesen war. Christopher hatte die Karte zerrissen, den Zwanzig-Pfund-Schein aber nicht. Den hatte er mir gegeben, um Medikamente für ihn zu kaufen, und ich hatte ihn genommen, weil ich
Weitere Kostenlose Bücher