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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Als ich wieder nach unten ging, begegnete ich Reg, der damit beschäftigt war, Unkrautvernichtungsmittel in die Ritzen zwischen den Pflastersteinen vor seinem Haus zu sprühen.
    «Endlich mal besseres Wetter heute», bemerkte er.
    Und zum allerersten Mal sagte ich ihm, was ich wirklich dachte. «Sie können doch nicht einfach alles umbringen, nur weil es Ihnen nicht gefällt. Lassen Sie das alles doch endlich in Frieden!»
    Ich ließ Dartmouth hinter mir, und nach einiger Zeit tauchte aus dem helleren Dämmer die Start Bay vor mir auf wie die Schlussklammer einer Nebenbemerkung in einem Buch über die Natur. Innerhalb der Klammern stand eine Geschichte über das Meer. Und drumherum das Land: grüne, rote und braune Felder und Hügel, die sich ringsum wölbten. Ich entdeckte kleine, zarte Büschel von Schneeglöckchen und große, struppige Ginstersträucher und am Rand der schmalen Straße Häuser, in deren Garten Rosen und Mimosen wuchsen. Die Knospen der Mimosen waren kleine gelbe Bällchen und sahen aus wie die Modelle von Molekülen. Es würde noch dauern, bis sie blühten.
    Ob Christopher mich zurücknehmen würde, wenn ich mich bei ihm entschuldigte? Ich malte mir aus, wie er mit einem Strauß Blumen nach Hause kam, feststellte, dass ich fort war, und dann sofort zu Libby rannte, um aus ihr herauszubringen, wo ich war. Irgendwie stand er in diesem Tagtraum dann gleichzeitig mit Rowan vor meiner Tür in Torcross, der meinen Aufenthaltsort auf ganz ähnliche Weise ausfindig gemacht hatte, und ich schickte Christopher weg. Doch was würde geschehen, wenn tatsächlich Christopher mit Blumen auftauchte, Rowan aber nicht? Was für Blumen das wohl wären? Wie ich Christopher kannte, würde er in den Royal Avenue Gardens ein paar Narzissen pflücken. Und wenn ich ihn deswegen schalt, würde er nur sagen: «Aber die Natur ist doch für alle da, Babe.» Dann würde ich erwidern, dass die Stadtverwaltung ja genau aus diesem Grund den Park bepflanzt habe, und wir hätten einen Riesenstreit. Ich konnte den Geruch von Narzissen sowieso nicht ertragen. Die Spekulationen klapperten seitenweise durch meinen Kopf, als schriebe sie jemand auf einer altmodischen Schreibmaschine, und sobald – Ping!  – eine Seite fertig geschrieben war, stellte ich mir vor, wie sie aus der Schreibmaschine gezogen und direkt in den Abfall befördert wurde. Jetzt fing ich also schon an, Schriftstücke zu löschen, die es gar nicht gab.
    Mein Häuschen in Torcross war wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Auspacken konnte ich nicht viel, ich hatte ja keine Möbel, und so saß ich stattdessen stundenlang am Fenster und schaute hinaus. Hin und wieder kamen ein paar Leute vorbei. Irgendwann rannte eine Frau mit ihrer kleinen Tochter den Strand entlang, und sie planschten beide im eiskalten Meer. Ein bärtiger Mann stellte direkt bei den Felsen sein Stativ auf und machte sich daran, Steine zu fotografieren. Etwa eine Stunde später spazierte ein Paar an meinem Fenster vorbei: eine Frau wie ein Berg und ein Mann, der aussah wie ein Einsiedler. Ich stürzte zur Tür und trat nach draußen, weil ich glaubte, von allen in Frage kommenden Menschen hätten ausgerechnet Vi und Frank mich hier ausfindig gemacht, und darüber war ich unwahrscheinlich dankbar und glücklich. Doch draußen im Licht erkannte ich, dass sie es gar nicht waren. Das Paar sprach mit walisischem Akzent und hatte einen West-Highland-Terrier dabei. Ich ging wieder ins Haus zurück.
    Kurz nach sechs nahm draußen alles die Farbe der Dämmerung an. Das Meer und der Himmel waren von identischem tintigen Blau, nur getrennt vom dunkleren Horizont: einer schwarzblauen Linie vor abwaschbarem blauem Grund. Ich hätte gern ein Foto davon gemacht. Dabei wäre wohl ein komplett blaues Bild herausgekommen, auf dem man die unterschiedlichen Nuancen der Streifen von Sand, Meer und Himmel kaum hätte erkennen können. Als es zu dunkel wurde, um noch etwas durchs Fenster zu sehen, kuschelte ich mich mit meinen Decken und einer Flasche Wein, die Libby mir geschenkt hatte, auf das große alte Sofa vor dem Kamin. Ich trank mich in den Schlaf, während draußen eine kosmische Kraft die letzten Reste des Himmels druckertintenschwarz färbte. In der Nacht glaubte ich ein paar Mal, mein Handy klingeln zu hören, doch als ich aufwachte, zeigte es keine verpassten Anrufe an.
    ***

Am Montagmorgen rief meine Mutter an.
    «Du gehst zu Hause ja wirklich nie ans Telefon», beschwerte sie sich. «Ich werde es jetzt

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