Das Ende der Geschichten (German Edition)
ein Hund.»
«Im Ernst?»
«Ja.»
«Und wo hast du den gesehen?»
«Auf dem Pfad.»
«Frank?»
«Oh, ich musste da gerade einem menschlichen Bedürfnis nachgehen. Ich habe ihn nicht gesehen.»
«Also, ich glaube», sagte Vi, «diese Bestie war eine Sie und kein Er.»
«Und was hast du gemacht?», fragte ich.
«Das, was ich immer tue, wenn ich einen herrenlosen Hund sehe. Ich habe ihr gesagt, sie soll nach Hause gehen. Und das hat sie auch getan. Sie ist den Weg entlanggetrottet und verschwunden.»
***
Zurück in meinem Cottage, machte ich Feuer im Kamin, und B. rollte sich davor zusammen. Vi, Frank und ich leerten innerhalb einer gefühlten Viertelstunde eine Flasche Rotwein, danach mussten wir auf Beast umsteigen, weil ich außer einem Kasten davon nichts Alkoholisches mehr im Haus hatte. Ich machte mich selbst – und vermutlich auch die anderen beiden – wahnsinnig mit dem Versuch, herauszufinden, was nun tatsächlich passiert und wohin Kelsey Newman verschwunden war. Frank hatte sich meine Gitarre genommen und klimperte leise ein Volkslied, das mir irgendwie bekannt vorkam.
«Er ist nicht zu seinem Vortrag erschienen», sagte ich zum wiederholten Mal. «Das macht mir wirklich Sorgen.»
«Willst du zurückfahren und noch einmal nach ihm suchen?», fragte Frank, ohne das Gitarrenspiel zu unterbrechen.
«Nein. Ich will nur sicher sein, dass ihm nichts passiert ist.»
Ich setzte mich an den Tisch am Fenster, klappte mein Notebook auf und googelte Kelsey Newman. Ich fand ein paar Interviews und eine veraltete Website mit der Telefonnummer einer Agentur in New York. Doch es war schon viel zu spät, um noch dort anzurufen, selbst wenn ich gewusst hätte, was ich sagen sollte.
«Es gibt gar keine Fotos von ihm», sagte ich. «Wie sieht er denn aus?»
Vi und Frank sahen einander an.
«Dunkelhaarig …», setzte Frank an. Dann musste er lachen. «Ehrlich gesagt kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Vielleicht fängt es ja jetzt an mit dem Alzheimer. Erinnerst du dich noch, Liebste?»
Vi schüttelte den Kopf. «Ich habe gar kein Bild mehr von ihm im Kopf.»
«Aber ihr habt ihn doch erst heute Nachmittag getroffen», sagte ich.
«Das war nur kurz», sagte Frank. «Außerdem hat er die meiste Zeit telefoniert.»
«Ich habe ohnehin kein gutes Gedächtnis für Äußerlichkeiten», meinte Vi. «Als ich noch Feldstudien machte, musste ich mir immer alles aufschreiben, und inzwischen kann ich mir überhaupt nichts mehr merken, wenn ich mir keine Notizen mache. Wenn ich jetzt die Augen zumachen würde, könnte ich dir nicht mal mehr sagen, was ich anhabe.»
«Und ich hatte wohl einfach schon zu viele Studenten», sagte Frank. «Er sah übrigens tatsächlich ein bisschen studentisch aus. Jeans, glaube ich, und Turnschuhe vielleicht. Komisch, dass ich das alles nicht mehr weiß.»
«Mein Gott» rief ich aus. «Das klingt ja fast, als hätte es ihn nie gegeben.»
«Da ist doch sicher ein Foto von ihm auf dem Buchumschlag», sagte Vi. «Hol den doch mal. Dann weißt du, wie er aussieht, und wir können uns wahrscheinlich auch an ihn erinnern.»
Ich suchte das ganze Haus ab, doch ich konnte das Buch nicht finden.
«Womöglich haben wir ihn uns alle nur eingebildet», meinte Frank. «Vielleicht war er ja eine Art Kollektivhalluzination.»
Ich suchte noch ein bisschen im Internet, bis ich die Telefonnummer der University of California Press gefunden hatte, des Verlags, in dem das Buch erschienen war. Um in Berkeley anzurufen, war es noch nicht zu spät. Ich holte das Telefon, wählte aber nicht.
«Warum willst du denn eigentlich sicher sein, dass ihm nichts passiert ist?», fragte Frank. «Interessiert dich das wirklich?»
«Dich etwa nicht?»
«Doch, schon, aber ich glaube, was immer da passiert ist, das ist jetzt einfach so, und wir können nichts mehr dagegen tun. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er sich im Bauch einer Bestie befindet. Und ich glaube auch nicht, dass er noch in Longmarsh ist, dort haben wir ihn ja gesucht. Vielleicht ist er einfach abgehauen. Wir haben unser Möglichstes getan.»
Ich seufzte. «Vielleicht will ich auch einfach nur sicher sein, dass diese Bestie nicht existiert. Ich möchte sicher sein, dass es Kelsey Newman gutgeht und er irgendwo da draußen ist und sich gerade ein neues, grauenhaftes Buch ausdenkt. Ich möchte sicher sein, dass Tim ein bisschen durchgedreht ist, das aber bald wieder überwinden wird. Warum, weiß ich nicht. Ist es denn nicht normal, sicher sein
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