Das Ende der Geschichten (German Edition)
sein Lächeln erstarb. Er stellte mich auf den Boden und erklärte, jetzt sei aber wirklich Schlafenszeit.
Miss Scott lächelte. «Pass auf», sagte sie. «Nehmen wir mal an, es war tatsächlich so, wie du berichtet hast. Ruprecht hatte schon recht, als er meinte, es sei nicht immer gut, sich seine Zukunft weissagen zu lassen. Zunächst einmal ist so eine Weissagung nicht in Stein gemeißelt. Sie sagt eher etwas über deine Persönlichkeit aus als darüber, was dir in Zukunft passieren wird. Ich glaube, Ruprecht wollte dir eigentlich nur zu verstehen geben, dass du nicht der Typ bist, der gegen Monster kämpfen muss. Und das ist doch gar nicht so schlecht. Erinnerst du dich noch an das Märchen von der Schönen und dem Biest? Das Biest sieht zwar aus wie ein Monster, doch eigentlich braucht es nur Liebe, und als die Schöne es dann wirklich liebt, verwandelt es sich in einen Prinzen. Die Schöne hat das Monster in diesem Märchen auch nicht besiegt; stattdessen hat sie es geliebt, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Sieh dir nur Herman an.» Ich schaute in die Ecke des Klassenzimmers, wo Herman sich gerade durch eine seiner Pappröhren zwängte. «Viele Menschen würden auch ihn für ein Monster halten. Sie kreischen: ‹Iiih! Eine Ratte!›, und würden womöglich versuchen, ihn mit Rattengift zu besiegen. Das wäre aber doch nicht nett, oder?»
Ich schüttelte den Kopf. «Nein.»
«Hast du schon einmal vom Vietnamkrieg gehört?», fragte Miss Scott weiter.
«Weiß nicht», antwortete ich. Ich hatte das Wort zwar schon gehört, konnte mir aber nichts darunter vorstellen.
«Da hatte sich Amerika, ein sehr großes Land, in den Kopf gesetzt, das Monster des Kommunismus zu besiegen», fing sie an, musste dann aber lachen. «Oje, ich fürchte, das Beispiel ist ein bisschen kompliziert. Aber bisher hast du verstanden, was ich meine, oder?»
Ich nickte.
«Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass ich nicht recht an Monster glaube», sagte Miss Scott.
«Das sagen alle Erwachsenen.»
«Hm … Ja, ich weiß, was du meinst. Aber ich will etwas anderes damit sagen. Wenn dich ein Monster besuchen kommt, oder etwas, das du als Monster bezeichnen würdest, und du freundest dich mit ihm an, dann ist es ja kein Monster mehr, zumindest nicht für dich. Und in diesem Sinn braucht es eigentlich gar keine Monster zu geben. Etwas wird nur zum Monster, wenn du es dazu machst.»
«Und was passiert, wenn das Monster sich nicht mit mir anfreunden will?»
«Nun, idealerweise geht ihr dann einfach jeder eures Wegs und lasst einander in Frieden. Das Entscheidende ist aber, dass man nicht gleich gewalttätig zu werden braucht, nur weil man jemanden oder etwas nicht mag. Ich glaube, das hat dein Freund Ruprecht in etwa gemeint. Wahrscheinlich wollte er dir sagen, dass du von Natur aus freundlich bist. Und das ist doch gut.»
«Aber er hat auch gesagt, ich würde am Ende vor dem Nichts stehen.»
«Ja, das ist schon schwieriger», meinte Miss Scott. «Das gebe ich zu. Wie hat er das denn gesagt?»
«Er hatte so ein gruseliges Gesicht dabei und gruselige Augen.»
«Und wie klang seine Stimme?»
Ich versuchte, mich daran zu erinnern. «Die war nicht ganz so gruselig wie der Rest.»
«Glaubst du, er könnte vielleicht gemeint haben, dass auch das etwas Gutes ist?»
«Was soll denn daran gut sein?»
Miss Scott lächelte. «In einigen Religionen gilt das Nichts als das Beste überhaupt.»
«Und wie kommen die darauf?»
«Das hört sich jetzt vielleicht ein bisschen seltsam an. Aber ich glaube, dass dieses Nichts, von dem sie reden, eigentlich mehr ein Geheimnis ist als ein richtiges Nichts. Es geht darum, die stoffliche Welt hinter sich zu lassen und auf eine spirituellere Ebene zu gelangen. Hast du schon einmal vom Taoismus gehört?»
«Vom Tau-ismus?», wiederholte ich.
«Das ist eher eine Art Weg als eine Religion. Im Taoismus bekommt alles seine Bedeutung erst durch das Nichts. Eine Tasse zum Beispiel ist nur dadurch nützlich, dass sie einen leeren Raum für deinen Tee hat. Und das Beste an einem Haus sind nicht die Wände und das Dach, sondern der Raum dazwischen, den wir bewohnen. Im Tao Te King , dem ‹Buch vom Weg›, gibt es eine sehr schöne Passage darüber, dass die Welt aus der Leere entstanden ist. Alle realen Dinge um uns herum wurden aus einem einzigen großen Stoff herausgeschnitten, und dieser Stoff ist das Nichts oder die Leere. Das Tao sagt, man soll die Dinge nutzen, sich dabei aber
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