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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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womöglich nur ein. Es war ein kalter November; draußen roch es nach Rauch, Äpfeln und Feuerwerkskörpern. Der Streik war beendet, und ich ging wieder zur Schule, wurde aber immer noch von dem verfolgt, was ich im Wald mit Ruprecht und Bethany erlebt hatte. Jeden Abend beim Schlafengehen stellte ich mir vor, dass das Monster kommen würde und ich es dann nicht besiegen konnte. Irgendwann gelangte ich zu der Auffassung, das Monster könnte mich nur sehen, wenn ich es auch sähe, und so hätte ich es beinahe geschafft, mit dem Kopf unter der Decke einzuschlafen, obwohl das sehr heiß war und ich nur schlecht Luft bekam. Der Lärm nebenan machte alles nur noch schlimmer, und bald schon nickte ich im Unterricht ein und fing bei jeder Buchstabierübung an zu weinen.
    Meine Lehrerin hieß Miss Scott und wurde von allen heiß geliebt. Sie war jung und schön und trug lange Kleider in sanften Farben. Andere Klassen hielten sich Wüstenspringmäuse und Meerschweinchen – wir hatten eine schneeweiße Ratte namens Herman. Andere Klassen führten chemische Experimente mit Lackmuspapier und Zitronensaft durch – bei uns rückte Miss Scott mit einem Campingkocher an, ließ uns Eier hartkochen und erklärte uns, auch dies sei ein naturwissenschaftlicher Vorgang. Doch so, wie sie es erklärte, hörte es sich an wie Zauberei. Eines Tages bat sie mich, bei ihr in der Klasse zu bleiben, während die anderen Kinder zur großen Pause nach draußen liefen.
    «Meg», sagte sie. «Du wirkst sehr unglücklich.»
    Ich konnte nicht anders: Ich fing sofort wieder an zu weinen. «Bin ich auch», schluchzte ich.
    «Willst du mir nicht davon erzählen?», fragte sie.
    Ich schüttelte den Kopf.
    «Aber irgendwem musst du es doch erzählen. Was ist denn mit deinen Eltern?»
    «Die werden nur böse.»
    «Ich werde bestimmt nicht böse. Versprochen.»
    Etwas in ihrem Blick ließ mich Vertrauen zu ihr fassen. Und so erzählte ich ihr, wie ich im Wald Ruprecht und Bethany begegnet war, wie ich zu feige gewesen war, um zaubern zu lernen, und wie Ruprecht mir die Zukunft vorausgesagt hatte.
    «Und jetzt habe ich schreckliche Angst vor dem Monster», gestand ich. «Ich weiß ja nicht, wann es kommt, um mich zu holen. Wenn ich richtig zaubern gelernt hätte, würde ich es vielleicht besiegen können, aber so kann ich das nicht. Ich kann gar nicht mehr schlafen, es ist alles so gruselig. Und außerdem kommen ständig so Geräusche von nebenan, und ich weiß, das ist das Monster, das mich holen kommt.»
    «Oh», sagte Miss Scott. «Das klingt ja wirklich ziemlich beängstigend.»
    «Sind Sie jetzt böse?», fragte ich.
    «Warum sollte ich denn böse sein?» Sie nahm ein Stück rote Kreide in die Hand und legte es dann wieder weg. «Pass mal auf, Meg. Du kennst doch den Unterschied zwischen einer Lüge und einer Geschichte?»
    «Ich lüge nicht! Und das ist auch keine Geschichte.»
    «Schon gut. Ich will ja gar nicht sagen, dass du lügst. Aber du bist gut darin, dir Geschichten auszudenken – du hast doch sogar schon einmal einen Preis fürs Geschichtenerzählen gewonnen, stimmt’s? Es ist nichts Schlimmes daran, gut Geschichten erzählen zu können, und in gewisser Weise ist alles, was wir uns erzählen, eine Geschichte. Aber manchmal ist es gut, wenn wir noch wissen, was an der Geschichte wirklich passiert ist und was wir uns nur ausgedacht haben.»
    «Sie glauben mir nicht», sagte ich. «Aber es stimmt. Es war so. Das weiß ich ganz genau.»
    «Natürlich glaube ich dir. Ich bin nur …» Miss Scott runzelte die Stirn. «Ach herrje.»
    Ich fing wieder an zu weinen. «Ich wollte meiner Mutter davon erzählen. Aber mein Vater …»
    «Was ist mit deinem Vater?»
    «Nichts. Er wird bei solchen Sachen eben böse. Er ist Materialist.»
    Zwei Jahre zuvor hatte ich bei meinem Vater auf dem Schoß gesessen und ihn gefragt, was er eigentlich den ganzen Tag an der Universität so mache. Er erzählte mir, er verbringe den größten Teil des Tages damit, sich Zahlen anzuschauen und Berechnungen durchzuführen, um herauszufinden, wie alt das Universum sei. Er sagte, er sei so etwas wie ein Detektiv, der Spuren betrachtet und daraus schließt, woraus etwas besteht und wie alt es sein könnte. Ich fragte ihn, warum er denn überhaupt wissen wolle, wie alt das Universum sei, und er meinte, das sei eine gute, aber auch schwierige Frage. Da fiel mir die Morgenandacht in der Schule ein, und ich sagte, vielleicht wolle er ja mehr über Gott erfahren, woraufhin

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