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Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte

Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte

Titel: Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heller
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lebst in der Vergangenheit. Ich frage mich, ob du überhaupt irgendwas von alldem zu schätzen weißt. Verdammt nochmal.
    Er zieht ab. Er stellt infrage, ob ich es überhaupt verdient habe. Zu leben.
    Ich gehe weg und lasse Jasper fressen. Wir werden uns morgen um sie kümmern.
    So mache ich das, so habe ich es oft gemacht: Ich schneide Fleisch von Schenkeln Brustkörben Armen. Ich schneide es auf, legte es in Salzlake ein und trockne es zu Dörrfleisch für Jasper, als Zwischenmahlzeit. Sie erinnern sich an die Geschichte von dem Rugbyteam in den Anden? Die Leichen waren Leichen, schon gestorben. Sie taten es, um zu überleben. Ich tue nichts anderes. Ich tue es für Jasper. Ich esse Wild, Rotflossenorfen, Hasen, Karpfen. Ich bewahre sein Dörrfleisch in luftdichten Eimern auf. Nichts isst er lieber, ich glaube, es liegt am Salz. Morgen werde ich es wieder tun, aber nicht der Junge, den Jungen werde ich beerdigen, ohne Zärtlichkeit und ohne Reue, aber dafür in einem Stück und mit Bussardfeder im Haar.
    Dass es so weit mit uns gekommen ist. Wir halten uns an unsere Tabus und vergessen den ursprünglichen Grund dafür, fühlen aber immer noch die alte Panik. Ich laufe um die Böschung herum. Ich sollte mich wieder hinlegen, unter die Decke kriechen und schlafen, die Böschung unter meinem Kopf wie ein breites Kissen. Damit ich morgen ausgeruht bin und fliegen kann. Aber ich schlafe die ganze Nacht nicht. Ich lege das Gewehr hin, nur das Gewehr, ich schiebe es zurück unter den Seesack und laufe los.

II
    Als ich mit dem Fliegen anfing, hatte ich das Gefühl, endlich zu tun, was mir ein Leben lang vorherbestimmt war. Viele Fluganfänger fühlen das, und ich glaube, dass es eher mit einer Art Baumwipfel- oder Berggipfel-Gen zu tun hat als mit dem Gefühl von grenzenloser Freiheit oder Metaphern vom sich erhebenden Geist. Wie die Erde da unten sich auflöst. Wie die Felder an ihren Platz rutschen und sich an die Entwässerungskanäle schmiegen, an die Kapillaren und Arterien des abfließenden Wassers: zusammengeschobene, runzlige Berghänge, die sich zu Falten von Klamm und Fluss verdrehen, von Aushöhlung und Abgrund. Die tief gelegenen Senken definieren die Ausläufer und das Vorgebirge, so wie Falten die Oberfläche eines Menschengesichts definieren. Noch weiter unten bohren sich die Canyons in die Erde. Die Mulden und Täler der niedrigeren Hänge, die gewundenen Flüsse und die ausgetrockneten Betten scheinen die Berge und die Plateaus der Hochebene zusammenzuhalten, nicht umgekehrt. Wie die menschlichen Siedlungen sich ausbreiten und an den Ufern konzentrieren, besonders an den Zusammenflüssen. Ich dachte: Die Aussicht sollte uns überraschen, aber sie tut es nicht. Wir kennen sie schon und interpretieren das Terrain da unten mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der wir an einem Flussufer entlangmarschieren und wissen, wohin wir unsere Füße setzen müssen.
    Was mir in meiner ersten Flugstunde am besten gefiel, war die Ordnung, das Gefühl, alles an seinem Platz zu sehen. Die Farmhäuser auf den rechteckigen Grundstücken, die Landstraßen, die sich an den vier Himmelsrichtungen orientierten, die Knicks zwischen den Feldern, die westwärts lange Schatten warfen, die runden Heuballen, das auf den Wiesen verteilte Vieh, die Pferde so perfekt angeordnet wie Sternbilder. Dasselbe rötliche Sonnenlicht fiel auf ihre Flanken, auf die Pickups vor den Häusern, auf die in Trailerparks in diagonalen Reihen abgestellten Wohnwagen, auf die Neubausiedlungen, in denen sich immer derselbe Dachwinkel wiederholte, auf Baseballfelder und das Oval einer Kartbahn, sogar die Schrottplätze fügten sich ein, zerklüftete Reihen aus verrosteten Autos, Berge von Altmetall, so naturgegeben und lieblich wie die Pappeln, die das Flussufer säumten und lange Schatten warfen. Der weiße Qualm aus dem Schornstein eines Kraftwerks wurde vom Morgenwind gen Osten getragen wie reine, weiße Baumwolle. So war das damals. Von da oben war kein Elend zu sehen, kein Leid, keine Qual, nur perfekte, geometrische Muster. Die unsterbliche Starre eines Stilllebens. Noch kann je dies Laub verwehn … Selbst das Warnlicht des Krankenwagens, der sich über den Highway schob, pulsierte im verlässlichen Rhythmus einer Grille.
    Und während ich fliege und alles von oben sehe, so wie ein Falke es sehen würde, befreie ich mich irgendwie von den klebrigen, unangenehmen Details: Ich bin nicht krank vor Trauer, meine Gelenke sind nicht steif, ich bin kein

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