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Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte

Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte

Titel: Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heller
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sind wir hier Ski gelaufen. Beim letzten Mal wurden Melissa und ich am Lift getrennt, und ich musste mit einem dicken Mann aus Nebraska rauffahren, der mit seiner Bibelgruppe im Skiurlaub war. Offen für alle Konfessionen.
    Wir befolgen einfach nur die Bibel, wortwörtlich, sagte er. Wort für Wort, um jeden Irrtum auszuschließen. Er schüttelte den Kopf, lächelte freundlich. Wie hätte ich ihm nicht glauben sollen?
    Ich musste an Findlinge in einem Flussbett denken, über die man hopst. Von einem Stein zum nächsten, ohne Nachdenken. Wort für Wort. Folge ihnen einfach, Mann. Eine Brotkrumenspur direkt zu Gott. Wie ich da neben ihm in der Gondel saß und unsere Füße zwanzig Meter über dem Erdboden baumelten, dachte ich: Vielleicht ist sanftmütig falsch übersetzt. Vielleicht sind es nicht die Sanftmütigen, die die Welt erben, sondern die Einfältigen. Und sie erben nicht, sie besitzen sie bereits.
    Ich erzählte ihm, dass ich jedesmal bei den Stammbäumen hängenblieb. Ich sagte ihm, ich hätte gerade die Klagelieder gelesen, die mich sehr an Mad Max erinnert hätten. Ich meine, da essen Mütter ihre Kinder, und alle sterben und so.
    Er lachte nicht.
    Er sagte: Ich versuche, mich an die rechte Hälfte der Bibel zu halten. Die linke wurde von Juden geschrieben. Sicher stehen da auch ein paar interessante Sachen, aber ich an Ihrer Stelle würde mit Johannes anfangen.
    Heute denke ich: Wir alle hätten der linken Hälfte mehr Beachtung schenken sollen. Der falschen Hälfte, der Hälfte, in der das Unglück seinen Lauf nimmt und die Kacke am Dampfen ist.
    Ich gehe in den Sinkflug und folgte dem Tal des Frasier bis Tabernash. Im Tal ist fast alles abgebrannt, nur die Feuerwache und der Schnapsdiscounter nicht, der jetzt einsam am Rand einer Wiese voller Dickhornschafe steht. Sie springen auf, drehen ab und traben panisch auf den geschwärzten Wald zu, als ich sie überfliege, und dann sehe ich vier Wölfe auf der Wiese, die die Schafe wie Schäferhunde vor sich hertreiben. Ich fliege weiter.
    Ich kenne die Landschaft wie meine Westentasche. Diesseits von Granby steht immer noch die Scheune von Doc Ammons auf seinem Land, eine offene Fläche von vierzig Hektar. Das Wohnhaus existiert nicht mehr. Im College war sein Sohn Swift mein bester Freund, die Ammons meine zweite Familie. Wir haben oft zu dritt im Frasier geangelt. Ich kann die Pflöcke der Weidezäune sehen, und den Ring, wo Becky ihre Pferde trainiert und ihre Reitschüler unterrichtet hat. Wahrscheinlich würde ich in der Gästeblockhütte, in der ich oft übernachtet habe, einen Stapel meiner alten Bücher finden. Aber heute will ich keine Erinnerungen. Ich fliege weiter.
    Ich fliege mitten in den schießschartenschmalen Gore Canyon rein, fast berühren die Tragflächenspitzen den Fels. Zumindest fühlt es sich so an. Auch hier habe ich geangelt, das Wasser fließt steil bergab, die Stromschnellen tosen laut, das Echo hallt von den Felswänden wider – man musste vorsichtig sein, wenn man auf den Bahngleisen zu Fuß unterwegs war, man musste sich immer wieder umdrehen. Mehr als ein Angler hat den Zug überhört. Die Luft über dem Wasser ist kalt und schwer, Nebel steigt auf, ideal für das Biest.
    Oder für mich? Früher bin ich am liebsten so geflogen, habe mich durch enge Schluchten geschlängelt, immer fünfzehn Meter über der Wasseroberfläche.
    Heute fühle ich gar nichts. Ich fühle mich wie meine nackten Unterschenkel, wenn sie zehn Minuten im Schmelzwasser gestanden haben. Taub und froh drüber. Froh darüber, taub zu sein.
    Vielleicht der einzige Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten: Die Lebenden wünschen sich oft, taub zu sein, die Toten nie, falls sie überhaupt was wollen.
    Sonne. Am Ende der Schlucht. Der Fluss beruhigt sich zu einer glatten, schwarzen Fläche, die Felsen rücken auseinander und gehen in hohe Berge mit unverbrannten Wäldern über. Ich sehe Enten, deren Flügel auf die Wasseroberfläche klatschen. Reiher mit angewinkeltem Hals steigen aus dem Schilf auf, spreizen die breiten Schwingen, sobald sie das Flugzeug hören. Rauchfarben.
    Was willst du, Hig? Was?
    Ich will rauchfarben sein.
    Und dann?
    Dann. Dann …
    Zieh am Steuerknüppel und steig vor der State Bridge steil in den Himmel auf. Vertrocknete Grashügel, Herden von Antilopen, vereinzelte Hirsche. Zwischen den Sandbänken des Eagle River erkenne ich den vormals protzigen Eagle Airport. Ich schalte das Mikro ein und funke den Tower an. Ich bitte um

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