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Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte

Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte

Titel: Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heller
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empfand ich eine Art diebische Freude über den kostenlosen Treibstoff. Kostenlos bis. Die Sonne stand zwei Fingerbreit über den Dünen im Osten, zwei Fingerbreit bei ausgestrecktem Arm, was bedeutete, dass es ungefähr sechs Uhr war. Dreizehnhundert Zulu. Mittlere Greenwich-Zeit. Greenwich, das lag irgendwo in England. Heimat der Uhrzeit. Mittelpunkt des zeitlich geordneten Universums. Früher einmal. Inzwischen scherte sich kaum noch jemand darum, so wie ich es sah.
    Kurz bevor Onkel Pete starb, vermutlich an einer durch den Krebs beschleunigten Leberzirrhose, als er ahnte, dass ihm nur noch wenige Monate blieben, tat er etwas, das mich vollkommen verblüffte: Er zog sich in seine Jagdhütte zurück, um seine Dias zu ordnen. Seine riesige Sammlung von Farbpositiven. Er hatte sein Leben lang fotografiert und sich dabei immer auf Dias beschränkt, weil sie, wie er sagte, schärfer waren. Er stapelte gelbe Papierschachteln und weiß-blaue aus Kunststoff, die jeweils einen Film enthielten, zu einem dreißig Zentimeter hohen Block auf seinem Küchentisch auf. Unter den schlimmsten Schmerzen öffnete er Schachtel um Schachtel, um jedes gerahmte Diapositiv in Sammelordnern zu verstauen, tagsüber im Licht eines kleinen Fensters und nachts unter einer Stehlampe. Er beschriftete sie mit einem Edding: Auf das Dia selbst schrieb er Dianummer / Sammelordnernummer, auf dem dazugehörigen Blatt notierte er das Aufnahmedatum und bis zu drei Schlagworte: Sportfischen, Florida Keys. Neben drei Ringbuchordnern, die jeweils ein bis drei Jahre umfassten, je nachdem, wie gründlich er fotografiert hatte, legte er einen weiteren Ordner mit liniertem Papier an, als Tagebuch. Darin fanden sich umfangreiche Beschreibungen, Anmerkungen zu einzelnen Bildern, die seine Erinnerung angeregt hatten. Zu jener Zeit besuchte ich ihn ein einziges Mal. Während er Dias einsortierte, hackte und spaltete ich Holz für einen langen, harten Winter, den er, wir wussten es beide, nicht mehr erleben würde. Drei Klafter Ahorn, Birke und Esche, geschlagen auf seinem Waldstück an einem sanft abfallenden Hang, gespalten und aufgestapelt über die halbe Breite der Veranda und einmal um die Ecke, und die schiere Menge, die ich hackte, während er drinnen einsortierte, beschämte ihn. Zuerst hielt ich ihn für verrückt. Ich meine, er hätte immerhin auf seiner kleinen Veranda sitzen und zum letzten Mal zuschauen können, wie der Vermonter Frühling sich langsam in einen sensationell grünen und schwülen Sommer verwandelte, er hätte die Zaunkönige und Lerchen und Eulen bei der Brut und der Kinderaufzucht beobachten können, die Blätter und die Luft. Er hätte sich an jenen letzten, kostbaren Abenden von Schwingfliegen, Schnaken und zuletzt Mücken stechen lassen können. Warum saß er nicht draußen in seinem Edelholz-Schaukelstuhl? Warum hat er nicht auf seiner verbeulten Klampfe gezupft?
    Aber als ich nachts in meinem alten Bett unter einem sperrangelweit geöffneten Fenster lag und draußen eine Eule kreischte wie eine Frau, um mir Todesängste einzujagen, was mich ehrlich gesagt glücklich machte – der bittersüße Schrei unverdaulicher Schönheit und drohenden Verlusts –, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. In absoluter Klarheit offenbarte sich mir, dass er sein Leben noch einmal Revue passieren ließ. Aber ja! Bild für Bild, Foto für Foto. Er scharte die Erinnerungen um sich wie einen Schutzwall gegen die Auslöschung. Die länglichen Schachteln mit den Dias waren seine Ziegel.
    Als ich an jenem milden Morgen oben auf der Leiter stand, dem gurgelnden Strömen des Treibstoffs im Flügeltank lauschte und anhand des Sonnenstandes die Zeit zu schätzen versuchte, musste ich plötzlich an Onkel Pete denken, wie er am Küchentisch in der dämmrigen, engen Hütte, in der es nach Harz und Rauch und Kaffee roch, über seine Alben gebeugt stand. Wie ein Mann, der sich in den Wind lehnt und Dias ordnet, die keinen Zweck mehr haben außer ein Bollwerk gegen das Vergessen zu sein. Gegen die Finsternis des totalen Verlustes.
    Nun ja. Ich würde die Stunden nicht zählen. Ich hatte ein Flugzeug voller Treibstoff und gutes Wetter, ich würde abheben und nach Westen fliegen und sehen, wie weit ich käme. Ich schraubte gerade den Tankdeckel zu, als ich jemanden schnaufen hörte und Bangley über die Rampe auf mich zukommen sah. Er trug einen Korb am Arm.
    Es war wie in diesem alten Eisenbahnerlied. Peter hatte es gesungen: Johnny’s mother came to him with a

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