Das Ende der Welt (German Edition)
vernünftig.
Wolf steckte seine Nase ständig in Bücher, man konnte ihn die unmöglichsten Dinge fragen, und er wusste eine Antwort. Während ich Wolf mit einem Ohr zuhörte, schnappte ich mit dem anderen die blecherne Stimme des unentwegt plappernden Lautsprechers auf. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt. Die Stimme meldete Feindberührungen, Seuchenausbrüche, Hungeraufstände und warnte vor Terroristen. Der Sender wurde vom Militär betrieben, um die Bevölkerung auf dem Laufenden zu halten.
Wir landeten auf dem Senatsplatz, wo wir einen Maulwurf am Spieß aßen. Er war zäh und verbrannt. Plötzlich hörten wir Schüsse und sprangen auf, doch die Leute um uns herum gingen ungerührt weiter. Sie waren daran gewöhnt.
Zeitungsjungen umschwärmten uns wie Fliegen und riefen die Schlagzeilen aus, ihre Hände und Gesichter dunkel von Druckerschwärze. Die Zeitung bestand ausschließlich aus Fotografien von Toten. Unbekannte, die Verbrechen oder Anschlägen zum Opfer gefallen waren. Oder an Hunger oder Krankheit zugrunde gegangen waren. Auf der Titelseite stand: WER KENNT SIE? Eine endlose Parade toter Gesichter. Männer, Frauen und Kinder. Manche sahen aus, als ob sie schliefen, andere, als seien sie bereits seit Wochen tot. Einige waren völlig entstellt und glotzten aus aufgerissenen Augen, verwundert darüber, dass sie gestorben waren. Der Rest der Zeitung bestand aus Gewinnspielen und Verlautbarungen des Senats. Wir scheuchten die Jungen weg und marschierten die Hauptverkehrsader hoch, ließen uns mit dem Strom der Fuhrwerke treiben und landeten schließlich an einem Kontrollpunkt, hinter dem der P-Sektor begann, das Vergnügungsviertel Berlins. Der Reiseführer versprach »allerlei Kneipen und Lokale«, von denen Bones unbedingt eins ausprobieren wollte. Wir betraten das erstbeste Wirtshaus, in dem ein nackter Irrer an einer Kette festgebunden war und tanzte, sobald man ihm einen Schnaps spendierte.
Wir zwängten uns zwischen den eng gestellten Tischen durch und riefen nach Bier, das auch sofort kam. Bones nahm einen Schluck und spuckte es fluchend aus. »Was ist das denn? Babypisse mit Schaum?« Er sprang auf und wollte dem Wirt an den Kragen, doch Wolf hielt ihn zurück. »Setz dich wieder hin«, sagte er beschwörend. »Die Stadtmiliz versteht keinen Spaß. Die greifen hier schnell durch.«
»Wollte doch nur ein bisschen Spaß«, maulte Bones. »Nur ’ne kleine Prügelei.«
Wolf wiegelte ab. »Trink dein Bier.«
Wir tranken noch ein weiteres, und beim Rausgehen trat Bones einen Tisch um, an dem ein paar Trinker saßen. Sie schimpften, verstummten aber schnell, als Bones sie kampflustig angrinste. Prüm und ich waren enttäuscht. Wir hatten uns auf eine saftige Prügelei gefreut. Ich beobachtete Wolf, wie er leise auf Bones einredete. Wolf war ein komischer Kauz. Man konnte leicht den Eindruck gewinnen, er sei feige, weil er lieber redete, als sich in den Kampf zu stürzen. Es hieß, Wolf sei mal ein ranghoher Offizier gewesen, der degradiert worden war. Aber niemand wusste etwas Genaueres. Kaum waren wir in der Kaserne, hieß es, ich solle mich bei Sönn melden.
»Deine Tat gestern hat Eindruck gemacht«, begann Sönn, als ich sein Zimmer betrat.
»Amandus möchte dir für seine Rettung danken.«
Ich schluckte. Ich hatte gehofft, wir hätten Berlin verlassen, bevor Amandus sich an mich erinnerte.
Ich salutierte und sagte: »Es ist mir eine große Ehre.«
Sönn zwinkerte mir zu und lächelte.
»Tu vor Amandus wenigstens so, als wäre es das.«
Ich salutierte erneut und wollte gerade gehen, da sagte Sönn: »Cato persönlich wird dich begleiten.«
Ich hätte vor Freude aufschreien können. Die Kameraden würden mich beneiden.
Cato wartete im Hof bereits auf mich und trippelte aufgeregt hin und her. »Das könnte dein Leben verändern, mein Junge«, rief er, als er mich sah, und winkte mir, ihm zu folgen. Mit seinen kurzen Beinen legte Cato ein Tempo vor, dass man glauben konnte, er habe zehn davon. Ich versuchte mit ihm Schritt zu halten, aber es war nicht einfach.
Wegen einer Demonstration der Zefs kamen wir nicht weiter. »Was wollen die?«, fragte ich Cato.
Er lächelte. »Was die immer wollen: höhere Löhne, mehr zu Essen oder bessere Wohnungen oder irgendwas anderes. Die Zefs sind nie zufrieden.«
Einer der Demonstranten erkannte Cato und blieb stehen.
»Meinen ehrerbietigen Glückwunsch zur gewonnenen Wahl«, rief er. Cato verbeugte sich leicht. Er hatte haushoch gegen seinen
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