Das Ende der Welt
ich, »natürlich.«
Ich verließ den Buchladen und fuhr nach San Rafael im Marin County. Ich parkte auf einem Parkplatz an der 4 . Straße und lief ein bisschen durch die Stadt. Im Buchladen legte eine Frau Tarotkarten. Vor einem indischen Restaurant brüllte der Kellner in sein Handy.
Im Gitarrenladen zog Jon, der Inhaber, neue Saiten auf eine Mahagoni-Favilla auf.
»Hey«, sagte er, »Claire! Tut mir leid, dass ich nicht zurückgerufen habe. Ich wollte es gerade machen. Du hättest nicht den ganzen Weg herkommen müssen.«
»Ist schon okay«, sagte ich. Ich betrachtete die Gitarre. »Du weißt, dass Paul unter anderem eine Favilla gestohlen wurde?«
»Warte mal«, sagte er, »hattest du nicht genau deswegen angerufen?«
»Nein«, sagte ich, »ich habe nur so angerufen. Was hast du denn gedacht?«
»Ich hätte es dir am Telefon erklären können«, sagte er. »Es ist wirklich banal. Du hättest nicht die weite Fahrt auf dich nehmen müssen.«
»Ich bin eben altmodisch«, sagte ich. »Mach dir keine Gedanken.«
»Die Fahrt war total unnötig! Hast du meine Mailadresse nicht?«
»Ich unterhalte mich am liebsten persönlich mit den Leuten«, sagte ich. »Da kommt Synchronizität ins Spiel. Da kommt das Schicksal zu Wort. Gibt dem Ganzen Leben.«
»Schon klar«, murmelte er mit hochgezogenen Augenbrauen, wie um zu sagen:
Ich glaube, du spinnst.
Ich war das gewohnt. »Tja, diese Gitarre gehörte tatsächlich Paul. Er hat sie mir vor ungefähr einem Jahr verkauft. Ich hatte das komplett vergessen, es ist mir jetzt erst wieder eingefallen. Im Grunde ist das Instrument Schrott und muss generalüberholt werden, deswegen hatte ich es ganz hinten verstaut und einfach vergessen. Er hat es zusammen mit einer Tele für eine Mayqueen eingetauscht. Ich hätte es nie angekauft, aber es war ja ein Tauschgeschäft, und außerdem, na ja, er war Paul. Aber irgendetwas an deiner Liste kam mir seltsam vor, deswegen habe ich in den Büchern nachgesehen. Ich hatte es total vergessen. Sorry, dass es so lange gedauert hat.«
Ich hatte ihm die Liste der gestohlenen Gitarren unverzüglich weitergeleitet. Wie die meisten ihrer Kollegen kauften, verkauften und tauschten auch Jon und Paul ständig ihre Instrumente. Es handelte sich quasi um eine gemeinschaftliche Sammlung, innerhalb deren Gitarren, Zubehör und Verstärker ständig den Besitzer wechselten, in Zeiten der Ebbe von eBay hinausgetragen wurden und des Nachts, unter Umständen Jahre später, mit der Flut wieder hereinkamen. Vollkommen verständlich, dass Lydia beim Verfassen der Liste Fehler unterlaufen waren, immerhin war sie selbst Teil dieser unendlichen Verwertungskette gewesen.
Aber aus irgendeinem Grund spürte ich ein nervöses Flattern in der Brust, und dann überwältigte mich das schreckliche Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben. Ich wollte weinen, aber ich wusste nicht mehr, warum; ich hatte vergessen, was es war, aber es hatte mir das Herz gebrochen.
Ich hatte eine Spur gefunden. Die Spur der verschwundenen Gitarre.
Ich wollte weinen, und plötzlich vermisste ich ihn höllisch.
»Gibt es hier eine Toilette?«, fragte ich. Jon zeigte hinter den Tresen. In der Toilette zog ich ein fast volles Kokaintütchen aus der Tasche, das ich am Vorabend Tabitha abgekauft hatte. Ich zog auf die Schnelle zwei kleine Lines hoch und kehrte in den Laden zurück.
»Insgesamt wurden fünf Gitarren gestohlen«, sagte ich, um die Fakten zu ordnen. »Da waren fünf leere Halterungen. Also war eine davon nicht die Favilla.«
»Genau«, sagte Jon.
»Hast du eine Ahnung, um welche es sich handeln könnte?«, fragte ich.
Jon zuckte die Achseln. »Da käme praktisch jedes Modell in Frage. Ich habe die alten Quittungen durchgesehen, aber nichts Auffälliges entdeckt. Was auch immer das für eine Gitarre war, sie stammte nicht aus meinem Laden.«
»Die verschwundene Gitarre«, sagte ich. »Wir haben eine verschwundene Gitarre.«
»Ja, so sieht es aus«, sagte Jon. »Tut mir leid, dass du den ganzen Weg hergekommen bist. Immerhin … Nun ja.«
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Ach, nichts«, sagte er. »Tut mir leid, dass du so weit fahren musstest.«
»Du wolltest noch etwas sagen«, sagte ich.
»Nein.«
»Okay. Ich kann es natürlich nicht mit Sicherheit wissen«, erklärte ich ihm, »aber es klang so, als wolltest du nach ›immerhin‹ noch etwas sagen.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte Jon. »Redest du wirres Zeug?«
»Du verschweigst mir etwas«, sagte
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