Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft
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Statt sich zu entkoppeln, litt der Rest der Welt in diesem Winter mehr als die Vereinigten Staaten. Während die amerikanische
Wirtschaft in diesen beiden Quartalen gegenüber dem Vorjahr um 6 Prozent schrumpfte, fielen die Rückgänge andernorts deutlich
heftiger aus. Länder, die sich eigentlich entkoppeln sollten, taten das Gegenteil. 30 Im letzten Quartal des Jahres 2008 schrumpfte die japanische Wirtschaft, die angeblich immun gegen die Krise war, um 12,7
Prozent gegenüber dem Vorjahr und die südkoreanische sogar um 13,2 Prozent. China verhinderte eine Rezession, doch das Wirtschaftswachstum
fiel unter das erforderliche Niveau. Der Rest der Welt hatte weniger Glück. Als die Suche nach den Schuldigen begann, zeigten
viele Beobachter auf den Konkurs von Lehman Brothers, den sie für die Ursache allen Übels hielten. Diese Ansicht ist bis heute
verbreitet.
Diese Interpretation klingt zwar tröstlich, doch sie ist falsch. Zum Zeitpunkt des Lehman-Bankrotts, im September 2008, befanden
sich die Vereinigten Staaten bereits seit zehn Monaten in einer Rezession, und viele Länder saßen in demselben Boot. Die Kreditklemme
hatte mehr als ein Jahr zuvor begonnen, ebenso wie die Probleme auf den Kapitalmärkten. Die Krise in den Vereinigten |184| Staaten, die mehr als anderthalb Jahre vor der Lehman-Pleite begann, hatte den Rest der Welt bereits über eine Reihe von Kanälen
erreicht: über das Finanzsystem, die Handelsbeziehungen sowie über Rohstoffe und Währungen.
Die anderen Länder wurden nicht durch puren Zufall infiziert. Seit Jahren waren ihre Volkswirtschaften durch Immobilien-,
Spekulations- und Kreditblasen, Schuldenprobleme, Risikoverhalten und Überhitzung gekennzeichnet. Ihre Schwächen hatten sich
über Jahre hinweg entwickelt, und selbst Länder, die vorsichtiger vorgegangen waren – etwa China und der Rest Asiens –, hingen
stärker vom Export ab, als gut für sie war. Auch sie waren verwundbar, wenn auch aus anderen Gründen: Ihr Wohlstand hing von
Blasen auf der anderen Seite des Erdballs ab, und diese waren bereits vor der Lehman-Pleite geplatzt.
Doch der spektakuläre Zusammenbruch der angesehenen Investmentbank diente immerhin dazu, den Politikern das Risiko einer neuen
Weltwirtschaftskrise deutlich vor Augen zu führen. Ende 2008 blickten Politiker in aller Welt in den Abgrund und wurden gläubig.
Sie fuhren ihr gesamtes Arsenal an Rettungsmaßnahmen auf. Einige Strategien, beispielsweise Zinssenkungen, stammten aus dem
klassischen Repertoire der Wirtschaftspolitik. Andere schienen jedoch aus einer anderen Welt und vor allem aus einer anderen
Zeit zu stammen. Plötzlich hantierten Politiker mit Begriffen wie »quantitative Lockerung«, »Kapitalspritzen«, »Notenbank-Swaps«
und anderen unorthodoxen Werkzeugen. Einiges davon war erprobt, anderes nicht. Einiges funktionierte, anderes scheiterte.
In der Summe verhinderten die Maßnahmen vermutlich, dass sich die globale Rezession zur neuen Weltwirtschaftskrise auswuchs.
Doch ob die Medizin nicht gefährlicher ist als die Krankheit, steht auf einem ganz anderen Blatt. Dieser Frage sowie dem Schaden
und Nutzen unkonventioneller politischer Maßnahmen bei der Bekämpfung von Finanzkrisen wollen wir uns jetzt zuwenden.
|185| Kapitel 6
Die letzte Rettung
Als die Vereinigten Staaten im Jahr 2007 von der schlimmsten Finanzkrise seit Generationen heimgesucht wurden, war Ben Bernanke
gerade zum Chef der amerikanischen Notenbank ernannt worden – ein bemerkenswerter Zufall, denn Bernanke war einer der führenden
Experten für die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre. Er wusste über die komplexe Dynamik hinter diesem weltverändernden
Ereignis so viel wie kaum ein anderer Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart. Während seiner akademischen Laufbahn hatte
er wegweisende Artikel über die Ursachen und Auswirkungen der schlimmsten Wirtschaftskrise in der Geschichte der Vereinigten
Staaten verfasst.
Bernanke bezog sich dabei auf die Pionierarbeit der Monetaristen Milton Friedman und Anna Jacobson Schwartz. Wie wir in Kapitel
2 gesehen haben, hatten die beiden Vordenker mit früheren Auslegungen der Weltwirtschaftskrise gebrochen und behauptet, die
Geldpolitik – mit freundlicher Empfehlung der Notenbank – sei für das Debakel verantwortlich gewesen. Nach ihrer Interpretation
hatte es die Notenbank durch Untätigkeit und Unfähigkeit nicht nur versäumt, die Katastrophe zu
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