Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
erledigen und dann so schnell wie möglich zurück nach Rom. Tatsächlich flog er ab, sobald der Flughafen wieder geöffnet wurde. Ich blieb drei Monate. Meine Güte, das „Kind“war endlich geboren, ich wollte doch sehen, wie es aussah!
FOLCO: Die Geschichte … Das ist, was dich in deinem Leben am stärksten bewegt hat, nicht?
TIZIANO: Ja, immer. Und ich muss sagen, mein Instinkt war mir immer behilflich, sie zu spüren. Ich spüre sie. Achtung, da ist sie!
In meinem ganzen Leben als Journalist habe ich das große Glück gehabt, die Geschichte - die in Großbuchstaben - zu spüren. Wenn ich irgendwo hinkam, merkte ich sofort, ob es sich um eine außergewöhnliche Situation handelte oder um alltägliche Ereignisse.
Auch fünfzehn Jahre später, als ich mit sowjetischen Journalisten, lauter Trunkenbolden, auf der Propagandist über den Fluss Amur schipperte und in der BBC vom Staatsstreich gegen Gorbatschow hörte! Da begann man, vom Ende des Kommunismus zu sprechen. Meine Güte, ich war… ich war … ich fühlte mich wie eine Ratte auf einem untergehenden Schiff. Ich wollte weg, ich wollte sehen, was geschah! Da war sie wieder, die GESCHICHTE!
Ich verlasse also Hals über Kopf die Expedition, und es beginnt ein unglaubliches Abenteuer, wobei ich übrigens fast einen Riesenfehler begangen hätte, denn idiotischerweise wollte ich nach Moskau, wo alle waren. Doch die sowjetische Ineffizienz rettete mich. An jenem Nachmittag sollte ein Flugzeug nach Moskau in Blagovescensk zwischenlanden. Es hatte schon zur Landung angesetzt, doch wegen irgendwelcher Reparaturarbeiten stand eine Dampfwalze mitten auf der Landebahn, und so flog es weiter. Aus der Traum von Moskau! An jenem Abend wurde mir in meinem Spatzenhirn klar, dass das der Glücksfall meines Lebens gewesen war. Denn in Moskau wäre ich einer von drei- oder vierhundert Journalisten gewesen, die sich in einem Hotel zusammengepfercht die Pressekonferenzen anhörten. Hier aber war ich der Einzige!
Und wieder habe ich die Geschichte gespürt, und wie! Ich habe das erste Lenindenkmal Zentralasiens unter dem Ruf Allahu akbar, Allahu akbar! - Allah ist groß - fallen sehen. Und heute haben wir es mit al-Qaida zu tun. Siehst du die Verbindung? Nur wer dumm und kurzsichtig ist, verkennt den Zusammenhang zwischen dem Ende des Kommunismus als Ideologie der Unterdrückten, wie ich es dir im Zusammenhang mit Mao und Ho Chi Minh erläutert habe, und dem islamischen Fundamentalismus von heute.
Wenn man das nicht kapiert, kapiert man nichts.
FOLCO: Der islamische Fundamentalismus wäre also der neue …
TIZIANO: Er hat die Stelle des Marxismus-Leninismus eingenommen. Wer früher für eine andere, bessere Welt kämpfen wollte, gegen den westlichen Kapitalismus, verschrieb sich dem Marxismus-Leninismus, der war die Waffe der Zeit. Das ist wie beim Krieg: Heute benutzt man ganz andere Waffen als vor hundert Jahren, als es noch keine Repetiergewehre gab und man nach jedem Schuss nachladen musste. Für viele nationalistische Unabhängigkeitsbewegungen Asiens war der Marxismus-Leninismus eine ideologische Waffe, die eine gewisse Disziplin garantierte, eine Struktur, an die man sich anlehnen konnte.
Und als diese Waffe überholt war, ist eine neue entstanden.
Wenn du das nicht begreifst, begreifst du nichts, vor allem nicht al-Qaida.
FOLCO: Interessant.
TIZIANO: Weißt du, die Menschheit hat mich immer brennend interessiert. Was ist der Mensch nur für ein Wesen? Und so bin ich am Ende bei der vielleicht törichten, aber doch enorm wichtigen Frage angelangt, die sich letztendlich alle stellen: Wer bin ich? Wer sind wir? Der Mensch, die Menschheit … die hat es mir angetan. Wohin treibt sie? Was tut sie? Bessert sie sich oder eher nicht?
Das ist GESCHICHTE, oder?
FOLCO: Und diese Momente, in denen du die Geschichte gespürt hast …
TIZIANO: … diese Momente hatten etwas von Ekstase.
FOLCO: Welche Momente waren das in deinem Leben?
TIZIANO: Bestimmt der Fall von Saigon. Bestimmt der Fall der Sowjetunion. Da entdeckte ich vieles, was ich nicht geahnt hatte. Dir ist das vielleicht nicht so bewusst, weil du zu jung bist, aber wir waren in der Vorstellung aufgewachsen, hier ist Westeuropa, da ist die Mauer und hic sunt leones , die Sowjetunion. Die Sowjet union , in der alle gleich sind. Und dann fällt die Mauer und du fragst dich: Wo bitte ist denn diese Sowjetunion?! Hier sind die Mongolen, dort die Uiguren, dort die Kasachen, dort die Muslime, und alle sind
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