Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Pot war es nicht. Was er tat, hatte eine Logik, die es zu begreifen gilt, sonst ist die Geschichte Kambodschas nicht zu verstehen.
Ich habe ihn zu Gesicht bekommen, diesen neuen Menschen, den Pol Pot erschaffen wollte: es waren die Jugendlichen, die mich gefangen nahmen, fünfzehn, sechzehn Jahre alt, aschgrau, ohne ein Lächeln auf dem Gesicht, die nichts kannten als Krieg, Gewalt und Hunger. Stell dir vor, Pol Pot ließ auch alle Kochtöpfe des Landes zerstören, denn der Kochtopf steht für Familie, für eine Gruppe, die sich versammelt, für einen Ort, wo jemand flüstern könnte: „Weg mit den Roten Khmer“. Er lehrte die Kinder, ihre Eltern zu bespitzeln und zu denunzieren, und die wurden dann abgeholt und in den „Killing Fields“umgebracht.
Die Kochtöpfe zerstören - verstehst du, dass dahinter eine Logik steht? Nichts geschieht einfach so. Du darfst dich nicht darauf beschränken, die Tageszeitungen zu lesen. Du musst sie lesen, um den großen Zusammenhang zu erkennen, das Gewebe, durch das sich die Fäden der Ereignisse ziehen.
Der These, dass alle Diktatoren verrückt sind, werde ich stets widersprechen! Saddam ein Verrückter? Von wegen! Ein Sadist, ein Mörder, was immer du willst, aber verrückt - nein! Mit seinem totalitären Regime hat er das Land jahrzehntelang zusammengehalten, und kaum ist dieser Leim weg, zerfällt es, wie man sieht; ein Land, dem es lange gelungen war, den islamischen Fundamentalismus zu vermeiden, ein Land, das das weltliche, anti religiöse Bollwerk des Nahen Ostens war! Nein, Saddam war nicht verrückt. Sein Projekt mag Hunderttausende das Leben gekostet haben, aber es hatte seine Logik.
FOLCO: Die aber äußerst fragwürdig war!
TIZIANO: Natürlich! Fragwürdig, verwerflich, furchtbar. Ich meine nur, dass es sich nicht um Verrückte handelt, die eines Morgens aufwachen und sagen: „So, jetzt bringen wir zehntausend Menschen um“, verstehst du? In dem Wahnsinn von Menschen wie Mao, Stalin oder Pol Pot steckte System.
Was die Roten Khmer nach ihrer Machtergreifung taten, war schier unfassbar. Viele kambodschanische Intellektuelle waren während des Kriegs ins Ausland geflohen und Ärzte, Zahnärzte oder Professoren geworden, waren dabei aber immer Nationalisten geblieben und hielten zu den Roten Khmer, wenn es darum ging, zwischen einer Marionettenregierung und der Guerilla zu wählen. An all diese appellierten die Roten Khmer zurückzukommen, um sich am Wiederaufbau des Landes zu beteiligen. Hunderte folgten dem Appell. Doch als sie aus dem Flugzeug stiegen, begriffen sie, dass sie in die Falle gegangen waren. Sie wurden gepackt und mitsamt ihren Familien auf die tödlichen Reisfelder gebracht. Alle.
Eine schreckliche Geschichte. Schrecklich. Eine Überlebende hat ein bewegendes Buch über diesen bodenlosen Verrat geschrieben.
Schweigen.
Jetzt hören wir auf.
FOLCO: Warte, ich finde das gerade unglaublich spannend. Mir wird auf einmal ein Stück Geschichte klar, das ich nie begriffen hatte. Wie lange hat Pol Pots Regime sich gehalten?
TIZIANO: Von 1975 bis 1978. Ende’78 marschierten die Vietnamesen in einer Blitzaktion in Kambodscha ein, stürzten die Roten Khmer und besetzten das Land. Die Zivilisten, die mit den Roten Khmer kollaboriert hatten, flohen zur thailändischen Grenze, um sich in Sicherheit zu bringen. Oft brachen sie nach vielen Tagesmärschen unter der brennenden Sonne im Dschungel irgendwo zusammen, ohne Wasser, ohne Essen, von der Malaria geschwächt.
Ich hielt mich damals in Thailand auf, in Aranjaprathet, nahe der kambodschanischen Grenze, um mir von dem, was da vor sich ging, ein Bild zu machen, und eines Tages stieß ich vielleicht fünfhundert Meter von der Grenze entfernt auf ein paar Frauen, die auf einer Lichtung lagen, die Augen und Münder voller Fliegen. Sie sahen tot aus, aber sie atmeten noch. Es waren Rote Khmer, die Mörder von gestern.
Ich war in furchtbarer Verlegenheit. Was sollte ich tun? Sollte ich zählen, wie viele es waren, und dann weitergehen? Oder sollte ich mein Notizbuch wegstecken und versuchen, die Sterbenden zu retten?
Ich weiß noch, als wäre es heute, wie ich mir eine dieser mit Kot besudelten Frauen über die Schulter warf - ich wie immer in sauberen, weißen Kleidern - und losmarschierte, wobei ihr baumelnder Kopf mir bei jedem Schritt gegen den Rücken schlug - bumm, bumm, bumm. Ich trug sie zur Straße, wo das Rote Kreuz eine Erste-Hilfe-Station eingerichtet hatte, ging zurück und holte die nächste.
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