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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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den ich bald nach meiner Ankunft aufsuchte. Dr. T. war ein sehr einfühlsamer, sympathischer Mann mit einem üppigen Bart, der ein bisschen aussah wie Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus.
    Dr. T. machte kein Geheimnis daraus, dass er selbst von Betäubungsmitteln abhängig gewesen war, und ich empfand es als große Hilfe, dass er aus der Sicht eines Betroffenen verstand, was Verlangen nach Suchtmitteln bedeutet. Er war wie ich ein Kind vonHolocaustÜberlebenden und weigerte sich deshalb, mir eine Rechnung zu stellen. Er urteilte nicht. Er willigte sogar in ein Experiment ein, das ich unternehmen wollte, obwohl er mir prophezeite, dass es nichts nützen würde: Ich wollte vor und während einer Sitzung bei ihm trinken, um zu sehen, ob mir das ermöglichte, freier über emotionale Situationen zu sprechen, die dazu führten, dass ich zum Alkohol griff.
    Meine Schwägerin Fabienne fuhr mich zum Termin, ich hatte eine Flasche Scotch auf dem Schoß. Das Experiment war ein totaler Flop. Gewiss sprach ich frei mit Dr. T., aber wir stießen auf keinerlei Einsichten oder verborgene Themen.
    Gesprächstherapie in Einzel- oder Gruppensitzungen gehört standardmäßig zur Behandlung einer Abhängigkeit. In Clear Spring gab es regelmäßige Therapiesitzungen, jedes AA-Meeting war eine Form der Gruppentherapie, und ich war wegen meiner Angst zu Therapeuten gegangen, lange bevor ich mit dem Trinken angefangen hatte. Aber es ist schwierig, sich selbst zu analysieren und angemessen zu handeln, sofern man überhaupt angemessen handeln kann, wenn Angst und Panik einen fest im Griff haben oder wenn das Gehirn in Alkohol schwimmt. Später erfuhr ich, dass AA und Verhaltenstherapie bei Suchtpatienten nach mindestens sechs bis 18 Monaten Abstinenz am wirksamsten sind, und selbst dann sind die Ergebnisse nicht eben überwältigend positiv.
    Bestenfalls kann eine Gesprächstherapie ein frustrierender Prozess sein, bei dem man Symptome aufspürt. Menschen, die mit einer Veranlagung zu schweren Angstzuständen, zu affektiven oder Persönlichkeitsstörungen geboren sind, hilft es nicht, wenn man die Auslöser für Angst und Depression identifiziert, denn an den biologischen Ursprüngen und Mechanismen ändert es nichts. Ich will damit nicht sagen, dass die Gesprächstherapie keinen Nutzen hat, nur dass man ihre offensichtlichen medizinischen Grenzen berücksichtigen muss.
    Bei unseren Gesprächen sagte Dr. T. wiederholt: »Sucht ist ein spirituelles Problem. Warum können Sie sich nicht der Spiritualität zuwenden?«
    »Ich verstehe das nicht. Wie soll das gehen?«
    »Sie werden es rechtzeitig begreifen.«
    »Oder ich werde sterben, während ich auf die spirituelle Erleuchtung warte.«
    Statt den Einwand wegzuwischen, sagte Dr. T. mitfühlend: »Ja, das ist möglich. Aber wir müssen trotzdem alles versuchen, damit Sie wieder in Ordnung kommen.« Er riet mir, in eine private Entzugsklinik in Paris zu gehen und dort die Erholung zu finden, die bei meinem zweiten Aufenthalt in Clear Spring so abrupt unterbrochen worden war.
    Ich war inzwischen so lange aus Frankreich fort gewesen, dass ich das staatliche Gesundheitswesen nicht mehr in Anspruch nehmen konnte, und die Privatklinik war teuer, wenn auch nicht so teuer wie Clear Spring. Ich zahlte einen Teil, doch den größeren finanzierte meine Mutter, eine Regelung, mit der ich mich schlecht fühlte. Trotzdem blieb ich fast vier Wochen im November und Dezember dort, und die Erholung tat mir gut.
    Vor meinem Abflug aus Paris rief ich meinen ehemaligen Chef Raymond Barre an. In den Jahren 1980/1981, während meines Militärdienstes, den ich als junger Arzt absolviert hatte, war ich dafür ausgewählt worden, die Position des offiziellen Leibarztes des französischen Premierministers und der Regierung zu bekleiden. Barre war damals Premierminister, und wir hatten eine sehr herzliche Beziehung, weil wir beide das Interesse für klassische Musik teilten. Bei meinen Bewerbungen zur kardiologischen Facharztausbildung in den Vereinigten Staaten hatte ich handschriftliche Empfehlungsschreiben von Raymond Barre vorlegen können.
    Raymond Barre wusste nicht, dass ich zum Alkoholiker geworden war, und ich war froh, dass ich ihn in halbwegs guter Verfassung besuchen konnte und nicht krank aussah. Am Ende eines langen Gesprächs sagte er: »Wissen Sie, cher ami , wir müssen das Verfahren einleiten, dass Sie für Ihre Verdienste um das Ansehen Frankreichs im Ausland und um die Kardiologie in die

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