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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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Ehrenlegion aufgenommenwerden. Meine Sekretärin hat mir gesagt, dass es im nächsten Jahr fünfzehn Jahre her ist, dass Sie Ihre medizinische Doktorarbeit eingereicht haben, und das ist der früheste Zeitpunkt für eine Aufnahme.«
    Ich war sprachlos. Mein schlechtes Gewissen verlangte, dass ich protestierte: »Wissen Sie denn nicht, dass ich inzwischen ein hoffnungsloser Trinker und totaler Versager bin? Bringen Sie sich nicht in Schwierigkeiten, indem Sie mich vorschlagen.« Aber ich schwieg aus Verlegenheit und Scham und verließ Barres Büro mit dem Gedanken, dass er bei der Zusammenstellung meiner Akte für die Aufnahme in die Ehrenlegion von meinem Alkoholismus erfahren und den Plan aufgeben würde.
    Mitte Dezember war ich zurück in New York. Ich rang mit der Vorstellung, Sucht sei ein spirituelles Problem. Mir fiel ein, dass ich einen Experten für spirituelle Fragen kannte: meinen Freund Elie Wiesel. Bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an Elie 1986 hatte das Nobelkomitee ihn gewürdigt als »einen der wichtigsten spirituellen Führer und Wegweiser« der Welt.
    Elie war schon seit vielen Jahren ein enger Freund, und wir telefonierten oft und lange über dies und jenes. Er wohnte mit seiner Frau Marion nicht weit von mir auf der Upper East Side und lud mich oft samstags zum Plaudern ein. Manchmal baten mich Elie und Marion zu bleiben und den Sabbat mit ihnen zu begehen oder den Rest des Wochenendes mit ihnen und anderen Freunden auf dem Land zu verbringen.
    Elie wusste nichts von meinem Alkoholproblem. Um überhaupt mit ihm über Spiritualität und Sucht reden zu können, musste ich mir erst mit zwei Gläschen Mut antrinken. Ich rief ihn in Florida an, wo er und Marion Urlaub machten.
    »Elie«, eröffnete ich das Gespräch, »ich bin Alkoholiker.«
    »Was?«
    »Ja, und man hat mir gesagt, ich brauche spirituelle Führung. Kann ich dich um Rat fragen?«
    Elie erwiderte: »Das ist furchtbar … ganz furchtbar … wirklich furchtbar. Du solltest medizinische Hilfe suchen, Olivier.«
    »Ich habe die beste medizinische Hilfe. Ich habe lauter medizinische Helfer um mich. Aber man hat mir gesagt, Alkoholismus sei ein spirituelles Problem. Jung sagte, es hinge mit einem spirituellen Vakuum zusammen. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich verstehe es nicht. Kannst du mir helfen?«
    Elie wiederholte: »Du solltest zum Arzt gehen.« Den Rest unseres Gesprächs, eines der kürzesten, das wir je hatten, wiederholte er den Satz und dazu die Worte: »Das ist furchtbar, ganz furchtbar.«
    Für mich war es furchtbar, dass Elie mir keine spirituelle Führung geben konnte. Im Rückblick denke ich, dass es nicht fair war, von ihm zu erwarten, er könnte mir die spirituelle Natur von Sucht erklären. Sucht ist zweifellos eine Krise des menschlichen Geistes. Dennoch scheint es mir, dass die spirituelle Krise der Sucht ein Spätstadium eines Prozesses darstellt, der im Kern biologische Wurzeln und Mechanismen besitzt. Es gibt ganz sicher keine Möglichkeit, die vor der Sucht bestehende Krankheit einer lebenslangen affektiven Störung spirituell zu analysieren, wie es meine angeborene sehr ängstliche Disposition war.
    Damals, als ich das Gespräch mit Elie Wiesel führte, hatte ich diese Einsicht freilich noch nicht. Ich war nur verwirrt über meinen Alkoholismus und griff verzweifelt nach jeder Möglichkeit, ihn zu bekämpfen.
    Im Winter 1997/1998 blieb ich nüchtern, wann immer ich konnte, und wenn ich nicht nüchtern bleiben konnte, bemühte ich mich, die gesundheitlichen Auswirkungen meines Alkoholkonsums zu begrenzen. Die entscheidende Zeit für mich war der späte Nachmittag, da begann sich mein Verlangen nach Alkohol aufzubauen. An manchen Tagen schaffte ich es, zu widerstehen, obwohl ich mich nach dem Kampf schrecklich fühlte.
    Verlangen oder Craving ist ein schwer fassbarer Begriff, weil eskörperliche, emotionale und mentale Symptome umfasst, die in Wellen über Stunden und Tage hinweg auftreten. Für mich war es eine brutale Tatsache des Lebens. Im schlimmsten Fall, das haben Forschungen gezeigt, ist das Verlangen nach einem Suchtmittel wie der Hunger eines verhungernden Menschen: Die gleichen Hormone werden freigesetzt und die gleichen Gehirnregionen aktiviert. Das Nationale Institut für Alkoholmissbrauch und Alkoholismus (National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism, NIAAA) hat festgestellt, dass das Verlangen nach Alkohol sogar schlimmer sein kann als Hunger oder Durst und dass, wenn der Alkoholismus

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