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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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den Betroffenen im Griff hat, das Gehirn Alkohol als lebensnotwendig ansieht.
    Der Gedanke an ein Suchtmittel oder eine suchtartige Verhaltensweise kann sich noch in den ruhigsten Augenblicken in das Bewusstsein des Süchtigen einschleichen und schnell das ganze Denken ausfüllen mit der Sorge, nur ja möglichst schnell das Gewünschte zu erreichen. Das ist eine mental und emotional, aber auch physisch peinigende Erfahrung, weil sie mit Scham und Selbsthass verbunden ist, ein solches Verlangen überhaupt zu spüren.
    Das Verlangen nach Alkohol konnte mich in einen tranceähnlichen Zustand versetzen, in dem ich loszog, um Schnaps zu kaufen, als würde jemand anderer meinen Körper kontrollieren und meine Schritte lenken. Wenn das Verlangen mich überwältigte, konnte ich nur hoffen, beten und mich bemühen, am nächsten Tag besser Widerstand zu leisten.
    Ich habe bereits das AA-Akronym HALT für hungrig (hungry), ärgerlich (angry), einsam (lonely) und müde (tired) erwähnt, die vier wichtigsten Situationen, die Verlangen auslösen und verstärken. Essen wirkt dämpfend. Aber damals konnte ich noch nicht kochen, und Essen zu bestellen oder zum Essen zu gehen, brachte mir nicht die gleiche rasche und vollständige Erleichterung wie Alkohol.
    Ich besuchte viele AA-Meetings, zweimal schaffte ich das Ziel »90 an 90«: 90 Meetings an 90 Tagen. Oft ging ich zweimal, dreimal, sogar viermal am Tag hin. Mein Sponsor forderte mich dauernd auf, anmehr Meetings teilzunehmen, und sagte: »Da ist ein Stuhl mit deinem Namen darauf.«
    Leider lösten AA-Meetings bei mir manchmal starkes Craving aus, weil dauernd von Alkohol die Rede war. Andere Leute bei den AA berichteten das Gleiche. Im Workshop an der 79. Straße fand das letzte Meeting immer um zehn Uhr abends statt. Manchmal, wenn ich dort saß und immer wieder das Wort »Alkohol« hörte, spürte ich, dass das Craving gewonnen hatte, und schlich mich hinaus, um noch eine Flasche Schnaps zu kaufen, bevor um elf Uhr die Geschäfte schlossen.
    Teils weil ich verleugnete, dass ich mehr würde trinken müssen, teils als Vorsichtsmaßnahme kaufte ich immer nur eine Flasche und hortete nie Flaschen zu Hause. Es war allzu einfach, sich bis zu einem tödlichen Blutalkoholspiegel volllaufen zu lassen. Meine anderen großen Ängste waren Magen-Darm-Blutungen oder das Bewusstsein zu verlieren und an meinem Erbrochenen zu ersticken, beides kommt bei Alkoholikern nicht selten vor.
    Wenn ich mitten in einem Rausch aufwachte, überprüfte ich im Spiegel, ob meine Augen nicht gelb waren von erhöhtem Bilirubin, was ein Zeichen für schwere Leberprobleme gewesen wäre. Oft schwor ich dann, an dem Tag nichts zu trinken, und manchmal gelang es mir, den Rausch zu stoppen oder wenigstens für einen oder zwei Tage zu unterbrechen. Bei anderen Gelegenheiten sagte ich mir: Heute bist du nicht stark genug, um dich gegen das Craving zu wehren. Lass dich treiben und versuch einfach, nicht zu viel zu trinken. Ich stellte es mir so vor, als würde ich nicht versuchen, gegen eine Strömung anzukämpfen, und abwarten, bis ich Kräfte gesammelt hatte für den Versuch, nüchtern zu bleiben.
    Die übliche Frage in einem Rausch lautete, wie viel ich würde trinken müssen, bis ich einschlafen und meinem Geist und meinem Körper ein bisschen Erholung von Angst und Verlangen würde gönnen können. Wenn ich nicht genug getrunken hatte, wachte ich nach kurzem Schlaf wieder auf und war immer noch durstig nach Alkohol.
    Im Winter wachte ich manchmal aus einem Rausch auf und sah,dass es fünf Uhr und draußen dunkel war. Ich überlegte, ob es fünf Uhr morgens oder fünf Uhr am Nachmittag sein mochte. Fünf Uhr am Nachmittag hieß Sieg und fünf Uhr am Morgen Verzweiflung. Ich ging ans Fenster und blickte in die Dunkelheit. Viele Leute unten auf der Straße bedeuteten, dass es fünf Uhr am Nachmittag war und ich hinausgehen und eine Flasche kaufen konnte. Leere Straßen bedeuteten fünf Uhr am Morgen und dass ich noch fünf Stunden warten musste, bis die Alkoholläden öffneten.
    Wenn ich noch ein bisschen Schnaps in der Wohnung hatte, konnte ich ihn trinken und einigermaßen bis zur nächsten Flasche durchhalten. Einmal wachte ich gegen sieben Uhr morgens auf und brauchte Alkohol, aber es war keiner da. Im Laufe der nächsten Stunden nahm in mir die Idee Gestalt an, dass der Portier Alkohol haben könnte. Ich ging hinunter und fragte: »Haben Sie vielleicht Alkohol in Ihrem Schreibtisch?«
    Natürlich verneinte er;

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