Das Ende meiner Sucht
Tag war genauso hart wie der vorangehende oder noch härter. Süchtige kämpfen darum, abstinent zu bleiben, unter Schmerzen sammeln sie Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre, in denen sie nüchtern waren, aber das rechnet ihnen niemand an, wenn das Verlangen sie überwältigt und die Abstinenz endet.
Ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen und meinen Beobachtungen an Mitpatienten formuliere ich die folgenden Axiome an die Adresse aller, die wegen einer Abhängigkeit behandelt werden oder eine solche Behandlung durchführen:
Ein Rückfall ist nicht gleichbedeutend mit mangelnder Mitarbeit des Patienten.
Der Aufenthalt in einer Entzugsklinik ist keine Heilung.
Entzug bedeutet Ruhepause.
Ich brauchte dringend eine Ruhepause, als ich in Marworth ankam, und obwohl ich wütend war, nach Lenox Hill gebracht worden zu sein, bin ich meinen Freunden für ihr Eingreifen auch dankbar; Toms Lügen über mich stehen allerdings auf einem anderen Blatt. Beim Aufnahmegespräch in Marworth sagte mir ein Psychologe: »Bei der Einlieferung in Lenox Hill lagen Ihre Transaminasen [Leberenzyme] bei 300. Wie Sie wissen, ist das fast das Zehnfache des Normalwerts. Wenn Sie so weitertrinken, haben Sie noch eine Lebenserwartung von maximal fünf Jahren.« So hohe Transaminasen deuten oft auf eine akute alkoholbedingte Hepatitis hin, die Vorbote einer unheilbaren Leberzirrhose sein kann, aber Joan, Claudia und Tom hatten mein exzessives Trinken gerade noch rechtzeitig gestoppt.
Wie bei den Anonymen Alkoholikern lernt man auch in einer guten Entzugsklinik viele wertvolle Lektionen für das Leben. Eine Lektion, die ich aus Marworth mitnahm, besagte, jeden Morgen in den Spiegel zu schauen und etwas Gutes über mich zu sagen. Einmal bemerkte ein Mann in der Vorstellungsrunde bei den AA: »Habt ihr schon einmal darauf geachtet, dass ihr vermeidet, euch beim Rasieren in die Augen zu schauen?« Menschen mit einer Abhängigkeit mögen sich selbst nicht, sie halten sich für wertlose Loser, und sie schauen so wenig wie möglich in den Spiegel.
Ein Therapeut in Marworth sagte uns dazu: »Schaut euch im Spiegel an. Schaut euch an und mögt euch. Wie sie bei den AA sagen: ›Tut so, bis ihr es könnt.‹ Ihr hasst, was ihr da im Spiegel seht, aber tut so, als würdet ihr es mögen. Lächelt euch zu und sagt: ›Ich bin ein attraktiver Mensch.‹«
Der Therapeut sah aus wie Albert Einstein mit besonders zerzausten Haaren nach einer schlaflosen Nacht. Als er sagte: »Ich schaue mich im Spiegel an, und mir gefällt, was ich sehe«, lachten wir alle. Aber ich befolgte seinen Rat, und obwohl ich mich hässlich fand, gelang es mir schließlich, zu mögen, was ich im Spiegel sah.
Zu Marworths Lektionen für das Leben gehörte auch dieAufforderung, täglich eine Dankesliste zu schreiben und eine Liste mit Vorhaben für den nächsten Tag. Auf die Dankesliste kamen all die guten Dinge, die sich am Tag ereignet hatten. Dahinter stand die Idee, Wertschätzung für die einfachen Dinge des Lebens zu entwickeln, die man normalerweise als selbstverständlich ansieht, wie atmen, gut essen und ein Dach über dem Kopf haben, etwas Schönes in der Natur wahrnehmen, ein gutes Gespräch mit jemandem führen und so weiter.
Für die Dankesliste galt: je länger, desto besser. Die Planungsliste hingegen sollte kurz und knapp sein – und realistisch. Auf diese Weise erlebten wir die Befriedigung, unsere Ziele zu erreichen, ohne frustriert und von uns selbst und der Welt enttäuscht zu werden. Alles, was nicht auf der Liste stand und wir darüber hinaus schafften, war ein Bonus.
Ich liebte es, die beiden Listen zu schreiben. Meine Ziele für den nächsten Tag waren etwa: zu einem AA-Meeting gehen, drei ordentliche Mahlzeiten einnehmen, einen Spaziergang machen und ein gutes Gespräch mit einem Freund führen. Ich wusste, dass meine Mutter dazu sagen würde: »Nun, mein Sohn, wenn du das so willst, ist es in Ordnung für dich. Aber es ist nicht sehr eindrucksvoll.« Damit konnte ich leben. Leute beeindrucken zu wollen war nicht länger ein Ziel.
Die Therapeuten in Marworth versuchten auch, mich dazu zu bewegen, dass ich eine Liste dessen erstellte, was ich im Leben erreicht hatte. Sie sagten: »Sie sind großartig darin, anderen zu helfen und anzuerkennen, was andere geschafft haben. Sie wären ein guter Therapeut hier. Aber Sie müssen das auch bei sich selbst tun. Sie erkennen Ihre Leistungen nicht an. Sie gehören nicht zu Ihnen. Normalerweise lassen wir keine Liste
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