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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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noch beklagt, ich würde nicht einsehen, warum ich regelmäßig zu AA-Meetings gehen sollte, weil ich mit dem Bauarbeiter aus Brooklyn oder dem Ex-Häftling aus der South Bronx nichts gemein habe. Mein Sponsor sagte: »Schau nicht auf den Botschafter, höre auf die Botschaft« und »Urteile nicht, identifiziere dich«.
    Bei den Anonymen Alkoholikern gibt es viele kluge Sätze, und diese beiden zählen zu den klügsten. Nach und nach lernte ich, aufmerksam auf das zu hören, was andere Alkoholiker und Abhängige sagten. In der Entzugsklinik ging ich zu NA-Meetings und zu AA-Meetings, und ich kam in Kontakt mit vielen Leuten mit unterschiedlichen Süchten und Zwangsstörungen. Ob schwarz oder weiß, homosexuell oder heterosexuell, reich oder arm, Ex-Bulle oder Ex-Häftling: Ich erkannte mich in allen wieder.
    Wie schon gesagt, nährten die Gemeinsamkeiten in allen Erzählungen bei mir den Verdacht, dass all diesen Abhängigkeiten und Zwängen gemeinsame biologische Mechanismen zugrunde liegen mussten und eine medizinische Behandlung möglich sein müsste. Dieser Gedanke ging mir während meiner ganzen Krankheit nicht aus dem Kopf, trat aber in den Hintergrund, als die Routine in derEntzugsklinik ihre beruhigende Wirkung entfaltete und ich, wieder einmal, Hoffnung schöpfte, ich könnte durch geschärfte Selbstwahrnehmung, verbesserte Bewältigungsstrategien und AA-Meetings dauerhafte Abstinenz erreichen.
    Bei meinen Mitpatienten in Marworth sah ich viel Willensstärke und Entschlossenheit, gesund zu werden, bei den Angehörigen von Heilberufen genauso wie bei den anderen, und ich sagte mir, ich hätte selbst ausreichend davon. Wir alle hofften, unsere Abhängigkeiten hinter uns zu lassen, und das Renommee von Marworth bestärkte uns in der Hoffnung. Mein bester Freund im Club der süchtigen Heilberufler auf Entzug, Daniel, Kardiologe wie ich, sagte: »Das ist das Harvard unter den Entzugskliniken.« Das war zwar sarkastisch gemeint, enthielt aber auch einen Kern von Stolz und Hoffnung, dass Marworth ihm würde helfen können.
    Wenn Marworth das Harvard unter den Entzugskliniken war, dann wollten wir alle den Abschluss mit Auszeichnung schaffen. Zwar gab es keine schriftlichen Unterlagen, aber man erzählte sich, die Erfolgsquote von Marworth sei eine der höchsten im ganzen Land, 66 Prozent oder womöglich sogar 75 Prozent.
    Man kann suchen, wie man will, keine Entzugsklinik wird jemals eine bestimmte Erfolgsquote nennen. Und genauso wenig wird sie die traurige Tatsache enthüllen, dass die überwältigende Mehrheit der Alkoholiker binnen vier Jahren rückfällig wird, selbst wenn sie die ganze Zeit über vollkommen trocken waren. Bei anderen Formen der Abhängigkeit sind die Rückfallquoten ähnlich. 1
    Statt diese deprimierenden Zahlen mitzuteilen, verbreiten Entzugskliniken lieber vage positive Botschaften wie: »Unsere Patienten weisen ein Jahr nach Behandlung eine höhere Abstinenzrate auf als die in einer repräsentativen Vergleichsgruppe.« Die Abstinenzrate wird fast immer nur aufgrund der Angaben errechnet, die die Patienten in einer telefonischen oder schriftlichen Nachbefragung machen. Und Suchtpatienten lügen gewohnheitsmäßig über das, was sie tun,weil sie so viel zu verlieren haben – Job, Beziehungen, Sorgerecht für ihre Kinder –, wenn jemand herausfindet, dass sie es nicht schaffen, ohne allzu viel Stress abstinent zu bleiben.
    Dass die Entzugskliniken derartige Behauptungen aufstellen, hängt damit zusammen, dass es kein wissenschaftlich abgesichertes Behandlungskonzept für Abhängigkeiten gibt. Vor diesem Hintergrund wird ein Rückfall mit mangelnder »compliance«, mangelnder »Therapietreue« des Patienten, gleichgesetzt. Nach meiner Genesung von der Alkoholsucht dank Baclofen forderte ich meine medizinische Akte aus Marworth an. Im Entlassungsbericht heißt es: »[Olivier] hat wiederholt die Unterstützung der zwölf Schritte nicht genutzt, das wird deutlich an mehreren Rückfällen trotz Sponsor und Gruppe vor Ort.«
    Das ist eine doppeldeutige Sprache, die direkt aus George Orwells 1984 stammen könnte. Ich ging regelmäßig zu den Anonymen Alkoholikern, ich hatte einen Sponsor, und nach allen vernünftigen Kriterien folgte ich sorgfältig den zwölf Schritten. Aber wie die meisten bei den AA halfen mir die zwölf Schritte nicht so weit, dass ich endgültig mit dem Trinken aufhören konnte.
    Außerhalb der Entzugsklinik bemühte ich mich tagtäglich aufs Neue, nicht zu trinken, und jeder

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