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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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Milligramm?«
    »Ja, das verschreibe ich.«
    »400 Milligramm?«
    »Nein, mein Lieber, 300 Milligramm täglich sind meine Grenze. Damit kannst du mich in deinem Aufsatz zitieren.«
    John erklärte mir, 300 Milligramm Baclofen oral sei eine konservative Grenze für Neurologen seiner Generation und er habe einige Patienten, die so viel nähmen, ohne Nebenwirkungen zu verspüren. Jüngere Neurologen tendierten dazu, Patienten mit Dosierungen über 120 Milligramm auf ein kürzlich auf den Markt gekommenes Pumpensystem umzustellen, das das Mittel direkt über das Rückenmark zuführe. Aber viele Neurologen sähen keinen Grund dazu, insbesondere angesichts von Berichten über Infektionen und andere Komplikationen durch solche Pumpensysteme.
    Bei seinen Ausführungen bedauerte ich, dass ich nicht früher in der Lage gewesen war, ihn nach der Dosierung zu befragen; das hätte mir eineinhalb Jahre Grübeln darüber erspart, wie viel ich gefahrlos einnehmen durfte. Aber trotzdem: Es spät zu erfahren war besser als nie.
    Im Licht der erfolgreichen Versuche mit hoch dosiertem Baclofen bei süchtigen Versuchstieren und der routinemäßigen Verschreibung von hohen Baclofen-Dosen zur Symptomlinderung bei neurologischen Patienten verblüffte es mich, dass Suchtforscher bei ihren Versuchen mit Menschen so geringe Dosierungen verwendet hatten. Konnte es sein, dass diejenigen, die Suchttherapie und -forschung betrieben, wirklich nicht wussten, wie die Neurologen Baclofen seit Jahrzehnten einsetzten? Wie ich später herausfand, lautete die Antwort tatsächlich Ja – eine unselige Folge der zunehmenden Spezialisierung in der Medizin.
    Bei der Arbeit an meinem Fallbericht erlebte ich ein heftiges Wechselbad der Gefühle. Manchmal wagte ich zu hoffen, mein Aufsatz könnte anderen Alkoholikern und Suchtkranken helfen. Dann wieder war ich sicher, dass man einen alkoholkranken Arzt, selbst einen ehemals alkoholkranken Arzt, nie ernst nehmen würde.
    Mir schien, dass ich, da ich offenbar der Einzige war, der den geheimen Code von Baclofen kannte, den Aufsatz so schnell wie möglich beenden müsse. Mehrfach schärfte ich der Frau, die ihn für mich abtippte, ein: »Wenn mir etwas passiert, bevor der Aufsatz fertig ist, schicken Sie alles per E-Mail an Boris Pasche.« Sie wiederholte geduldig jedes Mal, dass sie das tun werde.
    Es war eine ziemliche Herausforderung, den Aufsatz zu schreiben, denn ich schilderte etwas Neues in den Annalen menschlicher Sucht: nicht Reduzierung von Craving, sondern komplette Unterdrückung, nicht Abstinenz oder eine Hilfe zur Abstinenz, sondern vollständige, mühelose Gleichgültigkeit gegenüber Alkohol bei gleichzeitiger Linderung der komorbiden Angst.
    »Du hast etwas geschaffen, was vorher nicht existiert hat«, sagte Jean-Claude, der mir mit wertvollen Kommentaren und Vorschlägen zu dem ersten Entwurf des Aufsatzes half. Ich fürchtete, er könnte zugunsten meines Papers voreingenommen sein, weil er mein Bruder war, aber in intellektuellen Belangen waren wir immer brutal ehrlich miteinander gewesen, und seine Forschungsleistungen als Immunologe gingen weit über meine als Kardiologe hinaus. Jean-Claude brachte in bahnbrechenden Artikeln als Einzelautor das Konzept der Apoptose, des programmierten Zelltods, für das Verständnis von Aids und anderen Krankheiten ins Spiel und hat in Zusammenarbeit mit Kollegen viele andere wichtige Aufsätze verfasst. Bei medizinischen und wissenschaftlichen Fragen würde er niemals ein Blatt vor den Mund nehmen.
    Ein wesentlicher Punkt, den ich in meinem Fallbericht betonen wollte, war, dass Alkoholiker und andere Suchtpatienten in der Regel unter einer vorausgehenden lebenslangen Dysphorie leiden mit Symptomen wie Angst und Depression. Doch ich fürchtete, die Herausgeber einer Zeitschrift oder Gutachter würden argumentieren, das sei nur eine anekdotische Behauptung anhand meines eigenen Falls, und würden es streichen. Doch zu meiner großen Erleichterung erschien genau um diese Zeit ein wichtiger Artikel, der meineBeobachtung untermauerte. In der Ausgabe vom August 2004 der Archives of General Psychiatry berichteten Bridget F. Grant et al. über den U.S. National Institutes of Health’s National Epidemiological Survey on Alcohol and Related Conditions (NESARC, Studie der Nationalen Gesundheitsbehörden über Alkohol und verwandte Probleme). Die Haupterkenntnis dieses Berichts, die ich in Kapitel 2 wiedergebe, lautete, »die Korrelationen zwischen den meisten Formen von

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