Das Ende meiner Sucht
gelegentlichen Steigerungen um 20 bis 40 Milligramm in Stresssituationen. Ich hatte Stimmungsschwankungen, zuweilen sehr heftige, wie es jedem ergeht. Aber dank Baclofen brachten sie mich nicht mehr so aus dem Gleichgewicht, dass ich überwältigende Angst oder Panikattacken erlebte.
Das Gefühl, ich befände mich in einem Märchen oder Traum, blieb noch eine ganze Weile bestehen. Ich traute der Sache nicht richtig, denn ich erlebte etwas, das man bei einem Alkoholiker oder sonstig Süchtigen für unmöglich hält: komplette Freiheit von Suchtdruck.
Im Laufe der Zeit gewöhnte ich mich an eine neue Realität, in der ich ohne Alkohol und ohne den permanenten Kampf gegen Alkohol normal leben und funktionieren konnte. Es war wie ein Wunder. Wie die AA und die Verhaltenstherapie übereinstimmend empfehlen, mied ich zunächst Situationen und Orte, an denen Alkohol bereitstand. Aber innerhalb kurzer Zeit erkannte ich, dass ich mir deswegen keine Sorgen machen musste. Selbst wenn ich mit Freunden im Restaurant oder auf einer Party war und sie tranken, verspürte ich kein Verlangen nach Alkohol.
Das übliche Kriterium, um zu sagen, dass ein Alkoholiker oder Süchtiger gesund ist, ist Abstinenz: erfolgreich dem Verlangen nach Alkohol oder einem anderen Suchtmittel zu widerstehen. Ich war Alkohol gegenüber in diesem Sinn nicht abstinent – ich war vollkommen und mühelos gleichgültig.
Alle in meiner Umgebung merkten die Veränderung. Im Aussehen registrierten sie meinen klaren Blick und das vitale Auftreten. Am Telefon hörten sie die Veränderung meiner Stimme. Freunde und Bekannte sagten: »Du wirkst wie ein anderer Mensch.« Sie lobten mich, zu Unrecht, wie ich fand, mit Sätzen wie: »Wir bewundern dich so dafür, dass du nicht mehr trinkst.« Abstinent zu bleiben trotz starkem Craving ist heroisch und verdient Lob. Aber wie ich allen zu erklären versuchte, die mir gratulierten, dass ich nicht mehr trank, hatte ich das Lob nicht verdient, denn die Veränderung war einzig darauf zurückzuführen, dass Baclofen mein Craving unterdrückte, meine Angst auflöste und meinen Antrieb zu trinken beseitigte. Es war schwer für meine Familie und Freunde zu begreifen, dass nicht zu trinken für mich keine Anstrengung bedeutete. Ich musste mit Kollegen aus der medizinischen Community darüber sprechen.
Ich wollte Philippe Coumel die gute Nachricht überbringen. Doch zu meinem tiefsten Kummer war er Anfang Juni verstorben.
Ende Juni rief ich meinen Freund Boris Pasche in seinem Labor in der Abteilung für Hämatologie und Onkologie an der Northwestern University Medical School an. Kaum hatte ich gefragt: »Wie geht’s?«, da unterbrach mich Boris schon: »Olivier, mit dir ist etwas Großartiges passiert. Ich höre es an deiner Stimme. Du klingst vollkommen anders als früher.«
»Deswegen rufe ich an.« Ich setzte ihm mein Baclofen-Protokoll auseinander. »Es ist so einfach wie das Einmaleins. Erstens unterdrückt Baclofen dosisabhängig bei Versuchsratten den Antrieb, Suchtmittel zu konsumieren. Zweitens reduziert Baclofen bei Menschen das Craving nach dem Suchtmittel. Und drittens hat hochdosiertes Baclofen, in einer Dosierung von 1 bis 3 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht wie bei den Versuchstieren, mein Craving nach Alkohol vollkommen unterdrückt und meine Angst besser gelöst als jedes andere Medikament, das ich probiert habe. Und wie du weißt, habe ich sie alle probiert. Ich wollte das die medizinische Community wissen lassen, aber ich fürchte, als Alkoholiker werde ich nicht glaubwürdig sein.«
Boris erwiderte: »Letzten Endes werden die Fakten entscheiden, und du hast starke Fakten zu berichten. Was du getan hast, ist faszinierend. Wann schickt du mir den Aufsatz?«
»Welchen Aufsatz?«
»Den Aufsatz, den du über deine Erkenntnisse schreiben musst. Ich gehöre inzwischen zum Herausgebergremium des JAMA [The Journal of the American Medical Association], und ich kann das an die richtige Adresse weiterleiten.«
Im Laufe der nächsten Wochen arbeitete ich daran, die Fallstudie über meinen Alkoholismus und die Wirkung von hoch dosiertem Baclofen innerhalb von nur fünf Wochen auszuarbeiten. Zu dem Zeitpunkt war ich nicht sicher, ob ich versuchen sollte, den Fallbericht anonym oder unter Pseudonym zu veröffentlichen. Sieben Jahre zuvor hatte ich mich in meinem eigenen Krankenhaus als Arzt mit einer Sucht geoutet. Dasselbe in einem publizierten Aufsatz zu tun, war ein noch viel radikalerer Schritt, danach
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