Das Ende meiner Sucht
führte kein Weg mehr zurück. Von da an würde jeder, der meinen Namen bei Google eintippte, sehen, dass ich Alkoholiker war oder mindestens ehemaliger Alkoholiker. Würde ich jemals wieder eine Stelle finden, wenn in dem Fallbericht mein Name auftauchte? Ich machte mir auch Sorgen um meine Familie, aber glücklicherweise hatten Jean-Claude und Eva keine Einwände.
Ich wog das persönliche Risiko gegen den potenziellen allgemeinen Nutzen ab und dachte dabei an verschiedene Menschen zurück, die ich auf der Entgiftungsstation und im Entzug kennengelernt hatte. Etliche waren an Alkoholismus oder anderen Süchtengestorben, andere kämpften noch um das Überleben. Vorläufig entschied ich, meinen Namen in dem Fallbericht zu nennen, um maximale Wirkung zu erzielen. Wenn ich meine Identität enthüllte, würde das auch zum Ausdruck bringen, dass all jenen, die an einer Abhängigkeit leiden, die gleiche Würde und der gleiche Respekt zustanden wie Patienten mit anderen Krankheiten.
Immer noch war bei meinen Baclofen-Forschungen ein Punkt offen: die Sicherheit in hohen Dosierungen. Aber dann stieß ich eines Tages, als ich nach Aufsätzen zu »hoch dosiertes Baclofen oral« suchte, auf etwas Vielversprechendes. 1991 hatten C. R. Smith et al. vom Medical Rehabilitation Research and Training Center for Multiple Sclerosis am Albert Einstein College of Medicine in der Zeitschrift Neurology ein Paper veröffentlicht mit dem Titel »Hoch dosiertes orales Baclofen: Erfahrungen bei Patienten mit Multipler Sklerose« (siehe Anhang). Im Abstract war von MS-Patienten die Rede, die mehr als 80 Milligramm Baclofen pro Tag einnahmen, und es hieß, »die Einnahme einer hohen Dosis war nicht mit Therapieabbruch verbunden«. 1
Ich suchte in ganz Paris nach dem Aufsatz, fand aber keine Bibliothek, die Neurology abonniert hatte. Im August erfuhr ich, dass die Zeitschrift in der Bibliothek des Hôpital Necker stand. Die Studenten und die meisten Angestellten hatten Ferien, und die Bibliothek war beinahe ausgestorben, als ich dort den Aufsatz las.
Darin wurde über MS-Patienten berichtet, die über 36 Monate hinweg bis zu 270 Milligramm Baclofen, meine Höchstdosis, oral erhalten hatten ohne Nebenwirkungen. Genauso wichtig war für mich die Aussage: »Leider neigen die Ärzte zu Unterdosierung [von Baclofen] … Pinto et al. schilderten Fälle, in denen Patienten bis zu 225 mg täglich über bis zu 30 Monate eingenommen hatten, und betonten, viele Patienten bräuchten mehr als 100 mg täglich, Nebenwirkungen seien dabei nur in Einzelfällen ein anhaltendes Problem.« Nun hatte ich den umfassenden Beweis, dass mein Fall keine Anomalie darstellte und dass orales Baclofen sicher war in Dosierungen deutlich über den30 bis 60 Milligramm, die Suchtforscher an Menschen ausprobiert hatten. Aber wie viel mehr war möglich?
Ich suchte nach »Baclofen Überdosis« und fand das Abstract eines Aufsatzes aus dem Jahr 1986, Verfasser: R. Gerkin et al., veröffentlicht in Annals of Emergency Medicine. Darin wurde über eine Frau berichtet, die einen Suizidversuch mit »mehr als 2 g [Gramm] Baclofen« überlebt hatte, »die höchste bis dato berichtete eingenommene Dosis«. 2 Zwei Gramm Baclofen – fast das Siebeneinhalbfache der 270 Milligramm, die mein Verlangen nach Alkohol unterdrückt hatten, und mehr als das Sechzehneinhalbfache meiner Erhaltungsdosis von 120 Milligramm – hatten sich nicht nur als nicht tödlich erwiesen, sondern die Frau erholte sich auch vollständig und ohne bleibende Schäden.
Ich hatte John Schaefers australischen Akzent im Ohr, als ich mich an seine Worte erinnerte: »Olivier, es ist ein sehr sicheres Medikament.« In Anbetracht der Tatsache, dass der Aufsatz über MS-Patienten in Neurology erschienen war, der führenden Zeitschrift auf Johns Gebiet, beschloss ich, ihn anzurufen und noch einmal zu Baclofen zu befragen.
Noch bevor ich ihm etwas über die Wirkungen von Baclofen auf mein Alkoholproblem sagen konnte, machte John eine Bemerkung, wie gesund ich klinge. Er war glücklich, als er von meiner Heilung hörte, und lachte herzlich, als ich ihm erzählte, wie viel Angst ich gehabt hatte, bei unserem ersten Gespräch über Baclofen zu erwähnen, dass ich trank.
Ich fragte ihn: »Verschreibst du deinen eigenen Patienten mehr als 80 Milligramm pro Tag, John?«
»Natürlich.«
»Wo ist deine Grenze? Gehst du bis 100 Milligramm?«
»Höher.«
»200 Milligramm?«
»In Einzelfällen noch höher.«
»300
Weitere Kostenlose Bücher