Das Erbe der Apothekerin - Roman
mittlerweile über seinen Charakter keinen Illusionen mehr hingab, gönnte sie ihm das Gelingen der Flucht. Seine Verhaftung hätte ihr wehgetan: Wusste sie doch, wie man mit Gefangenen umzuspringen pflegte …
Als Nächstes verfasste Cossa Briefe an die Konzilsteilnehmer, um seine »Abreise« zu rechtfertigen und um sämtliche Kardinäle zu sich zu beordern. Zumindest hoffte er, bei denen, die er selbst ernannt hatte, Erfolg zu haben.
Diese aufregenden Ereignisse hatten bei manchen Bürgern einen anderen Mann nahezu aus dem Gedächtnis getilgt: Jan Hus, der immer noch im Kerker saß und darauf wartete, sich endlich vor dem Konzil zu jenen Themen äußern zu dürfen, die ihm am Herzen lagen.
Ganz anders war es bei den Konzilsteilnehmern; Theologen und Juristen beschäftigten sich tagtäglich mit ihm. Männer, die durch Gelehrsamkeit, Sachverstand und einschlägige Erfahrungen mit Häresie vertraut waren, ja, die sich womöglich bereits als Ankläger oder Gutachter bei Ketzerverfolgungen ihre Meriten erworben hatten, bildeten das Gros der Beteiligten.
»Dass bei manch einem auch handfeste materielle Interessen im Hintergrund stehen, will ich gar nicht verschweigen.«
Gegenüber seiner Verwandten nahm Julius Zängle kein Blatt mehr vor den Mund. Er schätzte nicht nur Magdalenas Aufgewecktheit und ihren gesunden Menschenverstand, sondern ebenso ihre Loyalität. Dass sie nichts auf die Gassen hinaustrug, was innerhalb seines Hauses besprochen wurde, davon konnte er mittlerweile bedenkenlos ausgehen.
»Das solltet Ihr mir näher erklären, Vetter«, bat die junge Frau. Wie in letzter Zeit leider so selten saß man nach dem Nachtmahl noch zu einem guten Gläschen Wein in der Stube beisammen.
»Wer hätte denn einen eventuellen Nutzen von des Magisters Anerkennung beziehungsweise seiner Verurteilung?«
»Neben der theologischen Auseinandersetzung findet zugleich ein Kampf um die begehrten Lehrstühle an der Hochschule und um die Pfarr- und Predigerstellen in der Hauptstadt Prag statt. Für Hussens Anhänger oder Gegner ist der Ausgang des Verfahrens von großer Bedeutung. Manch einer, der bisher den streitbaren Mann unterstützt hat, überlegt
sich wohl schon, ob ein Wechsel zur Gegenseite für das eigene Fortkommen nicht förderlicher sei.«
»Ach ja? Die frommen Herren halten also ihre eigenen Interessen für wichtiger als die theologische Wahrheit?«
»Was heißt schon Wahrheit, mein liebes Kind? Als Jurist weiß ich, dass es stets mehrere Auslegungen davon gibt – je nach Betrachtungsweise. Wie viele sogenannte Wahrheiten hat man – auch in der Kirche – doch nach einigen Jahren wieder revidiert und muss jetzt genau das Gegenteil dessen für wahr halten, wozu man in früheren Zeiten verpflichtet war?«
Nachdenklich musterte Magdalena ihren Vetter, der gerade in seinen Weinkrug blickte und die letzten Tropfen darin herumschwenkte.
Der böhmische Reformator litt seit einiger Zeit an einem schweren Gallensteinleiden, seine Lungenerkrankung hatte sich indes gebessert. Etliche Male musste Magdalena ihn nun aufsuchen, um ihm Arzneien gegen die schmerzhaften Koliken und sein häufiges Erbrechen zu verabreichen. Sein jetziges Gefängnis bei den Dominikanern entsprach einigermaßen »normalem Standard«.
Was immerhin bedeutete, dass er nicht mehr Zugluft und Frost ausgesetzt war, ein Bett mit Strohsack hatte und genügend zu essen bekam. Die Haft sollte den Ketzer zwar zermürben – aber sterben sollte er auf keinen Fall, ehe sein Verfahren nicht beendet war. Einen Märtyrer aus ihm zu machen, war keineswegs im Sinne seiner Feinde.
Sein Kampf gegen die kirchliche Hierarchie bedrohte den Ämter- und Pfründenschacher und rief den stärksten Widerstand aller Begünstigten hervor: Man musste den Mann mundtot machen. Ein Unterfangen, das nicht leicht
war, denn der Begriff der Häresie war dehnbar. Gerade an den Universitäten wurde immer wieder recht frei diskutiert, und so manch einer hätte sich plötzlich im Verdacht gesehen, als Ketzer zu gelten, wenn ihm ein Gegner einen aus dem Zusammenhang gerissenen Ausspruch vorgehalten hätte.
Der wichtigste Schutzherr des Reformators, Baron Chlum, pochte mit Vehemenz auf das vom König zugesagte freie Geleit. Er tat dies jedoch ohne jegliche Sensibilität und mit einer solchen Penetranz, dass er Hus damit mehr schadete als nützte.
Dass Baldassare Cossas Abreise derweil die Gemüter erregte, verschaffte Jan Hus eine kurze Verschnaufpause. In Konstanz war auf
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