Das Erbe der Apothekerin - Roman
Anstalten machen, zu fliehen, würden die Männer keinen Augenblick zögern, ihn zu töten. Und es geschähe sogar mit dem Segen der Kirche …
Unmittelbar hinter den Bewaffneten schlossen sich Rolf und seine Reisegefährten an, wobei Utz und Betz das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. Ein mit einer Armbrust ausgestatteter Bursche ließ sich ein wenig zurückfallen, um die Neuankömmlinge einer eingehenden Befragung zu unterziehen.
Rolf gab Auskunft über Namen, Beruf sowie das Woher und Wohin ihrer Reise durchs Gebirge und erkundigte sich seinerseits über den armen jungen Menschen, dessen Leben nach der heiligen Messe, die anschließend für ihn gelesen würde, offiziell zu Ende war.
»Drei Ärzte haben Graf Eitelfried untersucht, als der erste Verdacht aufkam«, setzte der Mann sie ein wenig wichtigtuerisch in Kenntnis. Er trug lange hirschlederne Hosen, einen wollenen Umhang und eine eng anliegende Lederkappe.
»Der erste machte den Aderlass und die Blutprüfung, der zweite Doktor begutachtete ihn nackt vom Scheitel bis zur Sohle und der dritte unternahm die Harnschau. Alle drei fanden deutliche Anzeichen des Aussatzes an ihm. Also muss er die Gemeinschaft der Lebenden verlassen.«
Magdalena schauderte, und auch ihr Vetter sowie Utz und Betz fröstelten. »Damit ist der junge Edelmann aus der
menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen, er wird für tot erklärt und wird bis zu seinem wirklichen Ableben einzig und allein zum Umgang mit seinesgleichen verdammt. Wäre er verheiratet, gälte seine Ehe als aufgelöst. Alles, was er besitzt, fällt seiner Familie zu oder – sollte er keine haben – der Kirche«, fügte der geschwätzige Zeitgenosse hinzu. »Unser junger Graf ist zum Glück noch unverheiratet, aber seine Eltern leben noch. Kinder hat er keine.«
Letzteres war ein Segen – galt die Mieselsucht doch als eine vererbbare Krankheit.
Bald hatte die traurige Prozession – viele der Teilnehmer weinten laut – ihr Ziel, eine bescheidene Dorfkirche samt kleinem Gottesacker inmitten einiger um sie gruppierter Höfe, erreicht. Der Befallene kniete in der Mitte des Kirchenschiffs auf dem kalten Steinboden nieder – in gebührendem Abstand von Priester und Altar und den übrigen Gläubigen.
Magdalena, die sich ziemlich weit vorgewagt hatte, sah, dass der Priester, der inzwischen den weißen Chorrock abgelegt hatte und in schwarzem Gewand vor dem Altar stand, offensichtlich darauf wartete, dass die Sterbeglocke ihr Geläut einstellte, um mit der üblichen Totenmesse zu beginnen.
Sie beobachtete, wie vier vermummte und mit Handschuhen versehene Kirchendiener den Grafensohn aufhoben und auf einen vor dem Altar bereitstehenden Katafalk legten. Der »Tote« lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Zwischen die Finger der gefalteten Hände klemmte ihm einer der Männer ein kleines silbernes Kreuz.
Der Priester stimmte nun die Sterbegesänge an, und das Schluchzen der Gemeinde im Kirchenschiff wurde lauter. Vor allem eine verschleierte Dame – Magdalena hielt sie für die Mutter des jungen Mannes – weinte herzzerreißend.
Während der Pfarrer fortfuhr, die Totenmesse zu zelebrieren, wurde es allmählich stiller, das Weinen verebbte.
Ein Ministrant fiel Magdalena auf, der auf einen Wink des Priesters hin den Altarraum verließ und sich seitlich in die Sakristei begab. Als er zurückkehrte, trug er einen Eimer und eine kleine Schaufel bei sich und stellte beides neben dem Katafalk ab. Der Geistliche wandte sich dem scheinbar Verstorbenen zu, hob segnend die Hand über dessen Haupt und sprach dabei auf Lateinisch die Worte, welche die junge Frau schon des Öfteren bei Begräbnissen gehört hatte:
Memento homo quia es ex pulvere et in pulverem reverteris.
Dann griff der Pfarrer nach der Schaufel, fuhr damit in den Eimer und bestreute zu Magdalenas Befremden den jungen Grafen mit Erde aus dem Gefäß – ganz so, als läge er tatsächlich in einem Grab.
Anschließend näherten sich die Familienmitglieder und besten Freunde des jungen Mannes und vollzogen das gleiche Ritual. Solange das makabere Geschehen andauerte, waren erneut das Weinen der Mutter sowie das Schluchzen seiner übrigen weiblichen Verwandten zu vernehmen. Zuletzt sang die Gemeinde noch ein Lied, das seine Seele dem himmlischen Vater anempfahl; danach verließen die Trauergäste die Kirche.
Aber niemand ging nach Hause. Alle warteten vor dem Gotteshaus, dessen Haupteingang ein Kirchendiener verschloss. Nach einer Weile
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