Das Erbe der Apothekerin - Roman
öffnete sich die kleine Seitentür, und allen kroch ein eisiger Schauder über den Rücken:
War doch das Geräusch der »Lazarusklapper« zu hören, womit der Aussätzige die Mitmenschen vor seinem Herannahen warnte. Alle wichen noch weiter zurück und stellten sich in einem großen Bogen vor der Eingangspforte auf.
Der aus der menschlichen Gemeinschaft Ausgestoßene hatte inzwischen das »Lazaruskleid« – einen grauen Mantel – übergestreift, bestickt mit zwei weißen Händen auf der Vorderseite des Oberteils. Dazu hatte man ihm einen großen Hut mit breiter Krempe und weißem Rand gegeben, ein Paar Handschuhe, die er ständig tragen musste, um durch seine Berührung von Gegenständen die Krankheit nicht zu verbreiten, und zum Schluss die gefürchtete Rassel, um Gesunde zu warnen.
Niemand sprach auch nur ein einziges Wort mit ihm, alle taten, als wäre er gar nicht vorhanden. Auch er selbst suchte nicht die Augen seiner Lieben. Nicht einmal seine eigene Mutter, an der er im Abstand weniger Schritte vorüberging, würdigte der Aussätzige eines Blickes – geschweige denn einer Anrede.
Die untröstliche Frau blieb ebenfalls stumm. Sie sandte ihrem verstoßenen Sohn allerdings einen Blick voll brennender Liebe hinterher. Magdalena und alle, die es sahen, wussten, dass es ihr in diesem Augenblick das Herz brach.
Dieselbe Prozession, die den Grafen singend und betend in die Kirche begleitet hatte, gab ihm nun schweigend das Geleit hinaus aus der Gemeinde.
Der Geistliche allerdings fehlte dieses Mal: Hatte er den Toten ja bereits »unter die Erde gebracht« …
Der Aussätzige wurde, wie man es nannte, »aufs freie Feld verbannt«. Die Krankheit hieß daher auch »Feldkrankheit«. Am Dorfrand kehrten die Familie, die Freunde und Bekannten um, auch die Bewaffneten, ohne ihm auf Wiedersehen zu sagen – ja, es schien, als schauten sie durch ihn hindurch: Er bewegte sich fortan außerhalb ihrer Wahrnehmung.
Wollte der Grafensohn nicht umkommen in der Wildnis, war es am klügsten, er machte sich auf nach der nächsten
Stadt. In nahezu jeder größeren gab es inzwischen vor den Stadtmauern Heime, speziell für die Aussätzigen. Sie besaßen ihre eigene Kapelle und sogar ihre eigenen Friedhöfe, denn die Erkrankten durften auch nach ihrem Tod nicht mehr in die Gemeinschaft der Ihren zurückkehren.
Magdalena liefen die Tränen in Strömen über das Gesicht. Obwohl sie den jungen Mann nicht gekannt hatte, ging ihr sein grausames Schicksal ans Herz. Das Volk war der Ansicht – und die Kirche bestärkte es darin –, die »Mieseln« seien des Herrgotts Strafe für die schwere Sünde, mit einer Frau während der Zeit ihrer Menstruation geschlechtlichen Umgang gehabt zu haben. Man glaubte, das ausgeschiedene Monatsblut sei voller Gift und stecke nicht nur den jeweiligen Partner an, sondern führe auch bei eventuell gezeugten Kindern zum Aussatz …
»Der junge Graf hätte sich halt beherrschen und sich von menstruierenden Weibern fernhalten sollen«, hörte Magdalena einen feisten, gut gekleideten Edelmann zu seinen wissend nickenden Freunden sagen. Diese Worte taten der jungen Apothekerin in der Seele weh. Zum Schaden hatte der junge Mensch heimlich noch den Spott und die Verachtung der »anständigen Christen« zu ertragen. Einen Ort zu betreten war ihm fortan nur noch erlaubt, wenn er eifrig seine Klapper benutzte und laut »Unrein!«, »Unrein!« rief.
Meistens standen diese Elendsgestalten an den Kirchentüren und bettelten um Almosen. An langen Stöcken hielten sie dabei Stoffbeutel, die unten mit einem Glöckchen versehen waren, den frommen Kirchgängern unter die Nase. Und diese ließen, zutiefst geängstigt – oft auch von ehrlichem Mitleid erfasst –, ihre milden Gaben in die Klingelbeutel fallen.
Wie Magdalena wusste, wurde der Anblick der vom Aussatz
Heimgesuchten mit dem Fortschreiten der Krankheit immer entsetzlicher. Auch an Ravensburgs Stadttoren hatte sie die Ärmsten gesehen, in den verschiedensten Stadien ihres Verfalls.
Mit starrem, wildem Blick aus weit aufgerissenen Augen ohne Wimpern, einer rauen Stimme, oftmals einer verformten, eingesunkenen Nase und einem missgestalteten Mund, nebst ekelerregenden eitrigen Pusteln im Gesicht und abgefaulten Fingern und Zehen, waren sie der Alptraum eines jeden Bürgers, sobald sie sich ihm näherten und dabei unbeholfen gestikulierend um Almosen baten.
»Jeder hat Angst vor den armen Teufeln«, murmelte Rolf, als sie wieder zu ihrem abgestellten
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