Das Erbe der Azteken
sicherlich großen Eindruck gemacht.«
»Ja, ich glaube auch. Schon nach einer Woche arbeitete er als Leibwächter für einen reichen Iren auf Safari; innerhalb eines Monats stieg er schließlich ins Jagdführungsgeschäft ein. Mit den Händen war er ja ganz gut, aber mit dem Henry-Gewehr war er noch besser. Während andere europäische Führer und Jäger großkalibrige Jagdgewehre benutzten, konnte Blaylock einen angreifenden Kaffernbüffel – einen Mbogo – mit einem einzigen Schuss aus seinem Henry-Gewehr niederstrecken.
Etwa zwei Monate nach seiner Ankunft erkrankte Blaylock an Malaria und verbrachte sechs Wochen zwischen Leben und Tod schwankend, in denen seine beiden Geliebten – Massaifrauen, die in Bagamoyo arbeiteten – ihn gesund pflegten. Morton hat sich niemals klar darüber geäußert und auch keine derartigen Andeutungen gemacht, aber Blaylocks Fastbegegnung mit dem Tod muss irgendetwas in seinem Kopf ausgelöst haben.
Nach der Malaria verschwand Blaylock monatelang zu irgendwelchen Visionssuche-Expeditionen, wie er es nannte. Er lebte bei den Massai, suchte sich dort die ein oder andere Freundin, lernte bei den Medizinmännern, lebte zeitweise ganz allein im Busch, suchte nach den Goldminen König Salomons und nach Timbuktu, grub im Olduvai Gorge nach Fossilien, folgte den Spuren Mansa Musas, in der Hoffnung, seine goldenen Stab zu finden … Es gibt sogar eine Anekdote, dass Blaylock derjenige gewesen sein soll, der David Livingstone als Erster gefunden hat. Laut Mortons Bericht hat Blaylock einen Boten nach Bagamoyo geschickt, um Henry Morton Stanley zu benachrichtigen. Kurz danach hatten die beiden in der Nähe des Tanganjikasees ihre berühmte Dr.-Livingstone,-nehme-ich-an Begegnung .«
»Wenn wir Morton und seinem Bericht Glauben schenken«, sagte Remi, »dürfte Winston Lloyd Blaylock der Indiana Jones des neunzehnten Jahrhunderts gewesen sein.«
Sam lächelte. »Jäger, Forscher, Held, Mystiker, Casanova und unbesiegbarer Retter – in einer Person. Aber das alles stammt ausschließlich aus Mortons Biografie, oder?«
»Richtig.«
»Übrigens, können wir von der Annahme ausgehen, dass Morton seinen Namen dem Morton verdankt – nämlich Henry Morton Stanley?«
»Auch das trifft zu. Dem Familienstammbaum am Ende des Buchs zufolge trugen die direkten Nachkommen Blaylocks allesamt Namen, die einen Bezug zu Afrika haben – zu bestimmten Orten, zur Geschichte, zu Berühmtheiten …«
»Wenn Sie all das der Biografie entnehmen konnten, was ist dann mit dem Tagebuch, das Sie erwähnt haben?«, fragte Sam.
»Ich habe den Begriff Tagebuch benutzt, weil mir kein besserer einfiel. In Wirklichkeit ist es ein regelrechtes Potpourri: Tagebuch, Skizzenbuch …«
»Können wir es mal sehen?«
»Wenn Sie wollen. Es liegt im Tresor.« Abseits des Arbeitsraums hatte Selma einen hermetisch abriegelbaren Archivraum mit konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit eingerichtet. »Es befindet sich in einem bedauernswerten Zustand – von Insekten angefressen, beschmutzt, seitenweise durch Feuchtigkeit verklebt. Pete und Wendy sind dabei, es zu restaurieren. Wir fotografieren und digitalisieren, so viel wir können, ehe wir uns mit den beschädigten Abschnitten befassen. Eins muss ich noch erwähnen: Es scheint, als habe Blaylock das Tagebuch auch als eine Art Kapitänslogbuch benutzt.«
»Wie das?«, fragte Remi.
»Zwar nennt er an keiner Stelle die Shenandoah oder die El Majidi, trotzdem deuten viele Einträge darauf hin, dass er gelegentlich für längere Zeit zur See gefahren ist. Und Blaylock erwähnt den Namen Ophelia sehr oft.«
»In welchem Zusammenhang?«
»Sie war seine Frau.«
»Das würde seine Obsession erklären, denke ich«, sagte Sam. »Er hat nicht nur in Gedanken die Shenandoah umbenannt, sondern er hat Ophelias Namen auch in die Glocke eingraviert.«
»Ophelia ist ganz eindeutig kein afrikanischer Name«, sagte Remi. »So muss seine Frau in den USA geheißen haben.«
Selma nickte. »In der Biografie wird sie nicht erwähnt. Und er äußert sich auch im Tagebuch nicht gerade ausführlich über sie – man findet nur hier und da einige Anspielungen oder Bemerkungen. Ob er einfach bloß Sehnsucht nach ihr hatte oder irgendwelche tieferen Gefühle für sie hegte, weiß ich nicht, aber sie war immer irgendwo in seinen Gedanken.«
»Gibt es in dem Tagebuch irgendwelche Angaben von Daten?«, wollte Sam wissen. »Irgendetwas, das wir zu Mortons Biografie in einen Bezug stellen
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