Das Erbe der Elfen
gesehen ...
Ciri seufzte. Yennefer wandte sich zu ihr, der Obsidianstern an ihrem Hals funkelte mit tausend Lichtreflexen.
»Du hast recht«, gab das Mädchen mit ernster Stimme zu und schaute der Zauberin direkt in die veilchenblauen Augen. »Ich habe dich nicht gemocht.«
»Ciri«, sagte Nenneke. »Kommt zu uns. Das ist Frau Yennefer von Vengerberg, Meisterin der Magie. Hab keine Angst. Frau Yennefer weiß, wer du bist. Du kannst ihr vertrauen.«
Das Mädchen verbeugte sich, die Hände zu einer ehrerbietigen Geste zusammengelegt. Mit dem langen schwarzen Kleid raschelnd trat die Zauberin an sie heran, fasste ihr unters Kinn, hob ihr ziemlich ungeniert den Kopf an, drehte ihn nach links, nach rechts. Ciri empfand Zorn und aufkommenden Widerwillen – sie war es nicht gewohnt, auf solche Weise behandelt zu werden. Und zugleich fühlte sie brennenden Neid. Yennefer war sehr schön. Im Vergleich zu der feinen, blassen und recht gewöhnlichen Schönheit der Priesterinnen und Adeptinnen verströmte die Zauberin eine bewusste, geradezu demonstrative Schönheit, von ihr selbst akzeptiert und mit jeder Einzelheit betont. Ihre rabenschwarzen Locken, die in Kaskaden auf die Schultern fielen, glänzten, warfen das Licht wie Pfauenfedern zurück, wanden sich und wogten bei jeder Bewegung. Auf einmal schämte sich Ciri, schämte sich ihrer abgeschürften Ellenbogen, der rauen Hände, der abgebrochenen Fingernägel, der zu aschgrauen Strähnen verfilzten Haare. Auf einmal verspürte sie den heftigen Wunsch, zu haben, was Yennefer hatte – einen schönen, bis weit hinab freien Hals und darauf ein hübsches schwarzes Samtband mit einem hübschen funkelnden Stern. Gleichmäßige, mit Kohle hervorgehobene Brauen und lange Wimpern. Einen stolzen Mund. Und diese beiden Rundungen, die sich bei jedem Atemzug hoben, von schwarzem Tuch und weißer Spitze umhüllt ...
»Das ist also das berühmte Überraschungskind.« Die Zauberin verzog leicht den Mund. »Schau mir doch in die Augen, Mädchen.«
Ciri zuckte zusammen und zog den Kopf ein. Nein, darum beneidete sie Yennefer nicht, das wollte sie nicht gern haben und nicht einmal anschauen. Diese Augen, veilchenblau, tief wie unergründliche Seen, sonderbar blitzend, leidenschaftslos und böse. Erschreckend.
Die Zauberin wandte sich der beleibten Erzpriesterin zu. Der Stern an ihrem Hals flammte im Widerschein der Sonne auf, die zum Fenster des Refektoriums hereinfiel.
»Ja, Nenneke«, sagte sie. »Kein Zweifel. Man braucht nur in diese grünen Augen zu schauen, um zu wissen, dass sie etwas an sich hat. Die hohe Stirn, die ebenmäßigen Brauenbögen, die schöne Stellung der Augen. Die schmalen Nasenflügel. Die langen Finger. Die schwache Haarpigmentierung. Offensichtlich das Erbe der Elfen, obwohl sie nicht viel davon in sich hat. Ein Urgroßvater oder eine Urgroßmutter unter den Elfen. Habe ich es getroffen?«
»Ich kenne ihren Stammbaum nicht«, erwiderte die Erzpriesterin ruhig. »Er hat mich nicht interessiert.«
»Groß für ihr Alter«, fuhr die Zauberin fort, wobei sie Ciri immer noch mit Blicken taxierte. Das Mädchen kochte vor Wut und Verärgerung, kämpfte gegen den übermächtigen Wunsch an, herausfordernd loszuschreien, aus voller Lunge zu brüllen, mit den Füßen aufzustampfen und wegzulaufen in den Park, dabei den Blumentopf vom Tisch zu stoßen und so mit der Tür zu knallen, dass der Putz von der Decke rieselte.
»Nicht schlecht entwickelt.« Yennefer wandte den Blick nicht von ihr. »Hat sie in der Kindheit irgendwelche ansteckenden Krankheiten durchgemacht? Ach, danach hast du sie sicherlich auch nicht gefragt. Bei dir war sie nicht krank?«
»Nein.«
»Migräneanfälle? Ohnmacht? Neigung zu Erkältungen? Menstruationsprobleme?«
»Nein. Nur diese Träume.«
»Ich weiß.« Yennefer strich sich die Haare von der Wange zurück. »Davon hat er geschrieben. Aus seinem Brief geht hervor, dass man mit ihr in Kaer Morhen keinerlei ... Experimente angestellt hat. Ich würde gern glauben, dass das wahr ist.«
»Es ist wahr. Sie haben ihr nur natürliche Stimulanzien gegeben.«
»Stimulanzien sind niemals natürlich!« Die Zauberin hob die Stimme. »Niemals! Ebendiese Stimulanzien können bei ihr die Erscheinungen verstärkt haben ... Verdammt, so eine Verantwortungslosigkeit hätte ich ihm nicht zugetraut!«
»Beruhige dich.« Nenneke schaute sie kalt und auf einmal sonderbar abschätzig an. »Ich habe gesagt, dass es natürliche, absolut
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