Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Werkmeisters herumgeschlichen und hatte jeden einzelnen Leichnam beäugt, bevor die Totengräber ihn mitgenommen hatten. Beinahe alle waren gestorben – mit Ausnahme der Köchin, Anna von Ensingens und Brigittas. Er hoffte inständig, dass der Herr ein Einsehen mit ihm hatte – auch wenn es in letzter Zeit schien, dass er seine Seele wohl eher dem Teufel verpfändet hatte. Er lächelte freudlos. Es wurde Zeit, dass er seine Sünden beichtete, auch wenn er nicht sicher war, dass man für ein solch gewaltiges Vergehen wie das Auslöschen eines anderen Lebens Absolution erhalten konnte.
Wenigstens waren die verdammten Pfaffen zum Schweigen verpflichtet, dachte er verdrießlich, als er es Ulrich gleichtat und sich erhob. Immer noch stank es unter dem Dach der Witwe furchterregend nach dem Blut der Geißler und allerhand ekelhaften Säften und Tinkturen, die sie – wie all die anderen Ulmer – bei einem der geschäftstüchtigen Apotheker erstanden hatte. Ortwin bedachte eines der befleckten Tücher mit einem zweifelnden Blick. Vielleicht half all das Zeug ja tatsächlich etwas, denn immerhin hatte die Pest dieses Haus bislang verschont.
»Wo bleibst du denn?«, mahnte Ulrich ihn zur Eile, und mit einem Straffen der mächtigen Schultern folgte der Hüne dem Werkmeister hinaus in den warmen Morgen. Trotz der frühen Stunde wimmelte es in den engen Gassen bereits von Händlern, Marktschreiern, Krämern und allerhand Gesindel, dem die beiden Männer geschickt auswichen. Als sie nach etwa fünfzehn Minuten zügigen Marsches endlich vor dem Schild Zum spitzen Eisen anlangten, war Ortwins Mund wie ausgedörrt.
Drei Männer der Stadtwache waren bereits damit beschäftigt, sowohl das rote Kreuz an der Tür als auch das gelbe Siegel zu entfernen, dessen Farbe als Symbol der Ausgestoßenen galt. Die Bretter, mit denen sämtliche Fenster im Erd- und Obergeschoss vernagelt worden waren, kamen als Nächstes an die Reihe, und sobald der ebenfalls anwesende Priester das Haus mit Weihrauch geweiht und gesegnet hatte, folgte ein Bader, der im Inneren in Harz getränkte Fackeln entzündete. Der dicke, stark riechende Rauch, der von diesen verbreitet wurde, vertrieb angeblich auch die letzten üblen Dämpfe, deren Einatmen zur Erkrankung führen konnte. Erst wenn die Fackeln heruntergebrannt waren, würden die beiden Steinmetze eintreten dürfen.
Naserümpfend verfolgte Ortwin, wie die Badergehilfen blut- und eiterverschmierte Lumpen und Verbände ins Freie schleppten, welche sie mit etwas Öl übergossen, bevor sie sie in Brand steckten. So hoch schlugen die Flammen gen Himmel, dass Ortwin einen Moment lang fürchtete, sie könnten auf das Fachwerkhaus überspringen. Allerdings sackte das Feuer schon bald darauf in sich zusammen, sodass lediglich ein klägliches Häuflein Asche und angekokelte Stoffreste übrig blieben, die der Wind zerstreute.
Nachdem Ulrich von Ensingen die Männer bezahlt hatte, holten er und Ortwin ein letztes Mal tief Luft und betraten das verräucherte Haus. Totenstille schlug ihnen entgegen. Mit einem unheimlichen Gefühl im Nacken folgte Ortwin dem Werkmeister die Treppe hinauf in den ersten Stock, in dem eine dicke Staubschicht verriet, dass schon lange niemand mehr einen Fuß auf die starken Dielenbretter gesetzt hatte. Nachdem sie einen Blick in die verwaiste Stube geworfen hatten, wandten sie sich nach links, um sich den Korridor entlang zu dem geräumigen Gemach des Meisters zu tasten. Zwar fiel ein wenig Licht durch die verglasten Scheiben der Stube, doch der Flur selbst lag mehr oder weniger im Dunkeln.
»Warum siehst du nicht dort nach?«, fragte Ulrich und zeigte auf eine Tür zu seiner Rechten. »Das ist ihr Zimmer.« Damit ließ er den Gesellen stehen und machte vor dem Eingang seiner eigenen Schlafkammer halt.
Mit dem Herz in der Kehle hob Ortwin die Hand, um anzuklopfen, doch dann überlegte er es sich anders und stieß ohne Vorwarnung die Tür auf.
Nichts. Nicht einmal das Huschen einer Maus!
Fassungslos blickte er sich in dem ebenfalls vernachlässigt wirkenden Raum um. Hatte Ulrich ihm die falsche Kammer gewiesen? Nach einem letzten Blick in die Ecken verließ er das Zimmer und wiederholte die Prozedur bei den übrigen beiden Räumen auf dieser Etage. Als er auch die Abstellkammer durchsucht hatte, machte er mit einer Verwünschung kehrt und stürmte in Ulrichs Gemach. Dort blieb er wie angewurzelt auf der Schwelle stehen, da der Anblick, der sich ihm bot, all seine Hoffnungen zu
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