Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
protestierte inzwischen gegen die anhaltenden Temperaturen, die selbst in der Nacht kaum auf ein erträgliches Niveau sanken. Rechts und links des Weges zeugten die kläglich vertrockneten Überreste von Disteln, Spitzwegerich und Huflattich von dem erbarmungslosen Sommer, der trotz der vielen Regengüsse sogar die widerstandsfähigsten Pflanzen hatte verdorren lassen.
Als der Wagen durch ein tiefes Schlagloch rumpelte, unterdrückte Brigitta ein Stöhnen und fing sich gerade noch mit dem Handballen ab, bevor sie gegen einen der Getreidesäcke geschleudert wurde. Sie wollte sich eben wieder von den rauen Brettern abstoßen, als ihr Blick auf den schwarzen Kreis auf der Leinwand fiel, und sie ein rebellischer Gedanke durchzuckte. Ohne lange nachzudenken öffnete sie den kleinen Beutel, den sie an der gestohlenen Hose befestigt hatte, und zog ihr Essmesser hervor. Vorsichtig bohrte sie die Spitze der kaum drei Zoll langen Klinge zwischen die Fasern des Sackes und führte einen waagerechten Schnitt, der augenblicklich aufklaffte. Dick und klebrig quoll etwa ein Fingerbreit des verfaulten Korns daraus hervor, bevor die Masse das Loch verstopfte und zäh gerann. Mit einem triumphierenden Lächeln auf dem Gesicht wiederholte die junge Frau diese Prozedur, bis sie alle Säcke so präpariert hatte, dass diese reißen oder wenigstens aufplatzen würden, sobald man sie anhob.
Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass der Meier jemanden betrog, solange sie etwas dagegen unternehmen konnte! Das Bild einer der vielen Bettlerinnen, die jeden Mittwoch bei den Brüdern und Schwestern im Ulmer Heilig-Geist-Spital um eine Mahlzeit baten, tauchte vor ihrem Auge auf. Ausgemergelt und verhärmt trug diese junge Frau stets ein etwa dreijähriges Mädchen auf dem Arm, dessen Nase unentwegt lief. Eines Tages, während Brigitta den Schwestern dabei geholfen hatte, die Not der Bedürftigen mit einem kräftigen Eintopf zu lindern, hatte Clementine ihr die Geschichte der unglücklichen Müllerstochter erzählt.
»Seit einem Jahr kommt sie jede Woche zu uns«, hatte sie Brigitta wissen lassen. »Ihrem Vater hat früher die Mühle in Klingenstein gehört«, hatte sie geflüstert, während sie altbackenes Brot unter den Armen verteilt hatten. »Als er starb, hat sie den Betrieb zuerst alleine weitergeführt, aber dann kam es immer öfter vor, dass verfaultes Korn das Mehl verdorben hat. Natürlich haben die Bauern und Bürger ihr die Schuld dafür gegeben und sie schließlich in Schimpf und Schande davongejagt.«
Die Erinnerung ließ Brigitta grimmig ihr Werk betrachten. Dieses Getreide würde niemanden in den Ruin treiben! Zufrieden verstaute sie ihr Messer wieder in dem Beutel und machte gerade Anstalten, sich erneut hinter die Tonkrüge zu kauern, als der von zwei Ochsen gezogene Karren so plötzlich in einer der vielen ausgefahrenen Rillen stecken blieb, dass ihr ein spitzer Schrei entfuhr. Wie eine leblose Puppe wurde sie nach vorn geworfen und krachte mit dem Rücken gegen die Rückseite des Kutschbocks. Einen Moment lang war das Tosen des Blutes in ihren Ohren das Einzige, was sie wahrnahm, doch als ein dumpfer Laut verriet, dass jemand vom Bock gesprungen war, kauerte sie sich instinktiv zusammen. Kurz darauf ertönte die Stimme des beruhigend auf die Zugtiere einredenden Wagenlenkers, und sie wollte bereits erleichtert aufatmen, als unvermittelt die rückwärtige Klappe entriegelt wurde.
Mit einem durch das Tal hallenden Geräusch krachte Holz auf Holz, und ihre Augen weiteten sich furchtsam, als der Größere der beiden Knechte den Fuß auf das eiserne Trittgestell setzte. Mit einem kräftigen Ruck zog er sich nach oben, blickte sich misstrauisch um und erstarrte in der Bewegung. Verwundert schossen seine hellen Brauen nach oben, als er die Anwesenheit des blinden Passagiers bemerkte, doch er fackelte nicht lange, stemmte die Fäuste in die Hüften und baute sich drohend vor Brigitta auf.
»Was hast du hier zu suchen, Bürschchen?«, donnerte er, und mit Schrecken erkannte das Mädchen den blonden Riesen, den sie in der Scheune belauscht hatte. In dem fruchtlosen Versuch, vor ihm zu flüchten, krabbelte sie auf Händen und Füßen von ihm fort, bis ihr Rückzug von der Ladung blockiert wurde.
Bevor sie eine Erklärung stammeln konnte, bückte er sich zu ihr hinab, packte sie an der Brust des entwendeten Hemdes und hob die Pranke, die so riesig war, dass sie Brigittas Hals ohne Mühe hätte umfassen können.
»Dir werde ich
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