Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Mantel öffnete sie die Arme, um ihn zu empfangen und tröstend an sich zu drücken. Eine lange Zeit presste Wulf sein Gesicht in ihr offenes, von einem durchsichtigen Schleier bedecktes Haar und sog ihre Wärme in sich auf, bis er sich schließlich so weit gefasst hatte, dass er sich von ihr lösen konnte.
»Er kommt nicht zurück, nicht wahr?«, fragte sie mitfühlend und strich ihm über die vom Bartschatten raue Wange.
»Ich glaube nicht«, erwiderte er beklommen und raufte sich den ohnehin bereits zerwühlten Schopf.
»Dort ist er«, sagte Adelheid und wies mit der Linken auf die Weggabelung am Fuße des Felsens, wo in diesem Moment ein einsamer Reiter auftauchte. Schweigend blickten sie dem im gestreckten Galopp über die Felder fliegenden Wallach hinterher, bis er endlich zu einem winzigen Punkt in der Ferne verblasst war. »Vielleicht ist es besser so«, versetzte Adelheid, die die Hände über ihrem Bauch gefaltet hatte. »Für euch beide.«
Wenngleich Wulf zuerst hitzig widersprechen wollte, veranlasste die Aufrichtigkeit in Adelheids Blick ihn dazu, die Selbstlügen schonungslos zu zerschmettern. Sie hatte recht. Obwohl er aufrichtig hoffte, dass sein Sohn zur Besinnung kommen und nach Katzenstein zurückkehren würde, war es vielleicht arrogant und hochfahrend, den Willen Gottes infrage zu stellen. Denn was konnte es anderes sein als ein Fingerzeig des Herrn, mit dem dieser ihm den richtigen Weg weisen wollte? Er trat hinter seine zierliche Gattin und schlang die Arme um sie. Wie schnell ihr Herz schlug, fuhr es ihm unvermittelt durch den Kopf. Wie das eines gefangenen Vogels. Die Trauer in seiner Brust verwandelte sich unverhofft in ein alles auslöschendes Gefühl der Liebe.
Es war die Entscheidung seines Sohnes. Ganz egal, wie sehr diese ihn verletzte, er musste sie akzeptieren und den Blick nach vorne richten. Es nutzte nichts, sich vor Sorge und Furcht zermartern und vom Gram zerfressen zu lassen. Durch diese Hölle war er bereits vor achtzehn Jahren gegangen. Was die Vorsehung für ihn bereithielt, würde er akzeptieren müssen. War ihm mit Adelheid nicht bereits eine zweite Chance gegeben worden? Durfte er diese Möglichkeit, endlich glücklich zu sein, achtlos wegwerfen, um einem Teil von ihm nachzutrauern, der der Vergangenheit angehörte? Seine Hand wanderte zu ihrem Unterleib, wo sie sich über die ihre legte. Vielleicht hatte seine Liebe zu Katharina von Württemberg unter einem schlechten Stern gestanden, der immer noch alles beeinflusste, was mit ihr zusammenhing. Wie oft hatte er gelehrte Männer von den Korrespondenzbeziehungen reden hören, die den gesamten Kosmos und all seine Ebenen miteinander verbanden?
Sein Blick wanderte zum Himmel, dessen kräftiges Azurblau kein einziges Wölkchen trübte. Vielleicht war die einzige Möglichkeit, eine glückliche Zukunft zu gestalten, die alten Bande zu kappen und nicht mehr zurückzusehen? Er schloss die Augen und stellte sich vor, was in fünf Jahren sein konnte. Gleichgültig, wie sehr er den Jungen liebte, diese Liebe durfte dem gerade aufkeimenden Glück nicht im Wege stehen. Nachdem er sich ein letztes Mal versichert hatte, dass nichts mehr von dem Reiter zu sehen war, drehte er Adelheid zu sich um, küsste sie zärtlich auf die Lippen und ergriff ihre Hand. »Lass uns hinabgehen«, sagte er. »Es ist nichts mehr zu sehen.«
Kapitel 46
Schwäbische Alb, in der Nähe von Altheim, 8. August 1368
Brigittas Rücken schmerzte. Leise, um nicht von den beiden Knechten auf dem Bock entdeckt zu werden, zog sie die Füße unter ihrem Gesäß hervor und rollte die Schultern. Wenngleich der Ochsenkarren erst vor Kurzem das Dorf verlassen hatte, erschien ihr die Reise schon jetzt wie eine der vielen Torturen, die auf die Sünder in der Hölle warteten. Seit der dritten Stunde kauerte sie bereits zwischen Getreidesäcken, Käselaiben und Tontöpfen voller Butter, Sauermilchkäse und Sahne, und wenn sie nicht bald ihre Beine ausstrecken konnte, würde sie laut schreien. Je öfter sie das Gewicht verlagerte, desto schlimmer schienen die Krämpfe zu werden, die sie in regelmäßigen Abständen quälten, und auch die Übelkeit regte sich bereits wieder in ihren Eingeweiden. Obwohl die Morgendämmerung erst vor wenigen Minuten die Baumwipfel erreicht hatte, lastete die Hitze bereits schwer auf der Landschaft. Wenn dieser Tag so weiterging, wie er angefangen hatte, erwarteten die junge Frau lange Stunden unmenschlicher Hitze. Selbst die Natur
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