Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
hatte. Doch wenngleich er den zierlichen, schwarz-weiß gefiederten Vogel ansonsten hegte wie seinen Augapfel, würdigte er an diesem Tag nicht einmal den gegen die Gitter gepressten, blutroten Unterbauch eines Blickes. Als ob sie nicht ohnehin ihre gesamte Zeit mit Beten zubrachte! Er stöhnte leise. Warum hatte er sich nur dazu drängen lassen, Adelheid zu heiraten?, fragte er sich zum wohl tausendsten Mal seit der schicksalhaften Hochzeitsnacht vor etwas über zwei Jahren, in der er erkannt hatte, dass er seine Gemahlin niemals würde lieben können. Noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, beantwortete er sich die Frage selbst. Weil er ansonsten seinen Stammsitz an ihre Brüder, die Grafen von Oettingen, hätte verpfänden müssen, von denen er sich unanständige Geldsummen geliehen hatte! Einzig der vorteilhafte Verkauf seiner Zucht konnte ihm ein gewisses Maß an finanzieller Unabhängigkeit zurückgeben. »Bring mir einen Krug Wein«, herrschte er einen seiner Pagen an, der verschüchtert nickte und wortlos davonstob. Wulf ließ sich auf einen Schemel sinken und stemmte die Ellenbogen auf die Knie, um düster auf die Quader des sauber gefegten Steinbodens zu starren. Mehrere Missernten und eine durch Wurmbefall hervorgerufene Seuche hatten ihn dazu gezwungen, sich so weit zu verschulden, dass ihn schließlich nur noch die Heirat mit einer wohlhabenden Dame vor dem Verlust seines Stammsitzes hatte bewahren können. Er presste die Fingerspitzen an die Schläfen und versuchte, den aufkeimenden Kopfschmerz zu unterdrücken. Und nachdem er sechzehn Jahre um die Liebe seines Lebens und den Verlust seines Sohnes getrauert hatte, hatte er die Zeit für reif gehalten, mit der Vergangenheit abzuschließen und neu zu beginnen. Trotz aller Bemühungen kroch der von seinen Augen ausgehende, stechende Schmerz über den Hinterkopf bis in seinen Hals, der sich versteifte.
Wie hatte er nur so dumm sein können anzunehmen, dass er Katharina von Helfenstein jemals vergessen könnte?! Jedes Mal, wenn er Adelheids schmächtige, beinahe kindliche Gestalt betrachtete, stach ihm der Gegensatz zu der hochgewachsenen, dunklen und stolzen Katharina schmerzhaft ins Auge. Wohingegen Katharina gedeckte Farben und elegante Gewänder bevorzugt hatte, wirkte Adelheid in ihrem schreiend bunten Putz oft wie ein Gaukler. Und das, obwohl sie sich Tag und Nacht in der Burgkapelle vergrub! Hoffte sie, dadurch Gottes Aufmerksamkeit auf sich und ihre unwichtigen Probleme zu lenken?
Er schüttelte unwillig den Kopf und fuhr mit den Fingern in den dichten grau-schwarzen Schopf. Wie verhasst ihm dieser Ort war, den auch er einst häufig aufgesucht hatte, um Trost im Gebet zu finden. Doch seit dem Tod der Geliebten konnte er die prunkvolle Wandbemalung, die er ihr voller Stolz in allen Einzelheiten geschildert hatte, nicht mehr ertragen. Ein Klumpen in seinem Hals machte ihm das Schlucken schwer. Als er vor sechzehn Jahren erfahren hatte, dass sie der Pest erlegen war, hatte er Tag und Nacht gebetet, dass ihn diese Geißel Gottes ebenfalls treffen würde. Nachdem sein Wunsch nicht erhört worden war, hatte er wochenlang versucht, sich zu Tode zu saufen, bis ihn schließlich die Hoffnung, ihren gemeinsamen Sohn ausfindig zu machen, vom letzten Schritt abgehalten hatte. Er hatte alles in seiner Macht Stehende daran gesetzt, das Kind zu finden. Ohne Erfolg. Noch immer wollte die Erinnerung an all die erfolglos ausgesandten Boten und die immer wieder durch negative Nachrichten zerschmetterte Hoffnung ihn von innen her auffressen.
Mit einer zornigen Handbewegung schob er den Gedanken an den Knaben beiseite und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Wie sehr er es hasste, dass selbst kleine und unbedeutende Zwischenfälle ihn immer noch aus der Fassung bringen konnten. Vermutlich hatte der Junge nicht einmal das zweite Lebensjahr erreicht! Starb nicht jedes dritte Kind bereits in den ersten zehn Monaten? Die Enge in seiner Brust verstärkte sich. Was auch immer es war, mit dem er Gottes Zorn auf sich gezogen hatte, es schien auf seine Nachkommen überzugehen. Nachdem ihm Adelheid nach zwei Fehlgeburten endlich eine Tochter geboren hatte, war sein Unwille darüber, dass es kein Sohn war, schnell verraucht, als das Kind an einem furchtbaren Fieber erkrankt war. Und als es vier Wochen später unter dem herzzerreißenden Schluchzen seiner Mutter zu Grabe getragen worden war, hatte er sich geschworen, seine Gemahlin nie wieder in sein Bett zu
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