Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
sie noch einmal anzurühren!«, drohte er hitzig, während Sterne der Wut vor seinen Augen tanzten. Am liebsten hätte er den Druck der Stange so weit erhöht, dass Ortwin nie wieder jemanden belästigen würde. Doch dann würde er zum Mörder werden, und das war dieser Mistkerl nicht wert. Dennoch verstärkte er den Griff, bis Ortwins Augen aus den Höhlen zu treten drohten.
»Wenn ich dich noch einmal in ihrer Nähe sehe«, zischte er dicht am Ohr seines Widersachers, »dann kannst du Gift drauf nehmen, dass ich dich wegen Notzucht anzeige. Und was dir dann blüht, kannst du dir denken.«
Der Gedanke daran, vor den Augen der ganzen Stadt entmannt und anschließend gehäutet zu werden, ließ dem schwer atmenden Riesen die Farbe aus dem Gesicht weichen. Denn in dieser Hinsicht verstanden weder die Stadtwache noch der Stadtrat auch nur einen Funken Spaß. Wer sich ohne deren Zustimmung an einer freien Bürgerin verging, war des Todes.
»Ich werde Ulrich hiervon in Kenntnis setzen«, zischte Wulf und schleuderte die Stange zurück auf den Haufen, bevor er Ortwin auf die Beine zerrte. »Hau ab und lass dich nie wieder bei ihr blicken!«, knurrte er drohend.
Als Ortwins humpelnde Gestalt verschwunden war, näherte er sich unsicher dem Mädchen, das sich mit angezogenen Beinen weinend hin und her wiegte. Vor ihre Brust hatte sie etwas Weißes gepresst, das Wulf erst bei genauerem Hinsehen als ein totes Kätzchen erkannte. Schluchzend strich sie immer und immer wieder über das Fell des Tierchens, dessen Kopf schlaff nach unten hing. Nach einem letzten Blick über die Schulter zog Wulf sich ohne zu überlegen das Hemd über den Kopf und bot es Brigitta an, bevor er ihr etwas beschämt den Rücken zukehrte. Das Rascheln des Stoffes verriet ihm, dass sie ihre Blöße bedeckt hatte, und als er ihr wieder das Gesicht zuwandte, war sie bereits leicht schwankend auf die Beine gekommen. So viel Schmerz, Angst und Demütigung lagen in ihrem Blick, dass er ohne zu zögern auf sie zutrat und sie wortlos an seine Brust drückte. Zuerst versteifte sich ihr ganzer Körper, doch als er ihr behutsam die tote Katze entwand und auf ein Brett bettete, war es, als fiele ein Bann von ihr ab. Während sie ihren Tränen freien Lauf ließ, saugte sich der dünne Stoff seines Unterhemdes unaufhaltsam voll. Trotz der Dramatik des Augenblicks genoss er das Gefühl, das ihn durchströmte, als sie ihre Arme Hilfe suchend um ihn schlang. Zuerst schüchtern, dann beherzter fuhr er mit der Handfläche ihren Rücken entlang, um sie zu beruhigen, und flüsterte tröstende Worte in ihr Ohr. Eine scheinbare Ewigkeit klammerte sie sich an ihm fest, weinte, zitterte und rang nach Luft, bis sie sich schließlich ein wenig fasste und sich mit hängendem Kopf von ihm löste.
»Danke!«, flüsterte sie gedrückt und sah mit verweinten Augen zu ihm auf. »Danke.« Bevor sie erneut in Tränen ausbrechen konnte, legte er vorsichtig den Arm um sie und führte sie in Richtung Ausgang, wo er sich mehrfach umblickte. Keinen Moment machte er sich etwas vor. Nur zu gut wusste er, dass er sich an diesem Abend einen gefährlichen Feind gemacht hatte, der nicht müde werden würde, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Von heute an würde er jede Minute auf der Hut sein müssen, um Ortwins Rache zu entgehen.
Nachdem er sich versichert hatte, dass die Luft rein war, schob er Brigitta fürsorglich über den Münsterplatz auf das Haus ihres Vaters zu, hinter dessen Fenstern Kerzenlicht flackerte.
Sie waren keine zwanzig Schritte mehr vom Hoftor entfernt, als Brigitta abrupt innehielt und nach einem schweren Schlucken bat: »Bitte sag niemandem etwas.« Sie zögerte kaum merklich, bevor sie etwas leiser hinzufügte: »Wenn mein zukünftiger Ehemann davon erfährt, denkt er vielleicht, dass ich nicht mehr unberührt bin.« Erneut überzogen sich ihre Wangen mit einem tiefen Rot, das jedoch von der Dämmerung beinahe vollkommen geschluckt wurde. »Auch wenn mir das eigentlich egal ist.«
Bevor Wulf die volle Bedeutung dieser Worte verstand, reckte sie sich auf die Zehenspitzen, drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und floh durch den Hof in die Halle. Während er verwundert die Fingerspitzen auf den Teil seiner Haut drückte, auf dem ihre Lippen eine brennende Stelle hinterlassen hatten, kehrte allmählich der Schmerz zurück, den die Aufregung verdrängt hatte. Spätestens am nächsten Morgen würde er die Folgen seiner Heldentat ausbaden müssen, dachte er –
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