Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Schulterzucken und verstaute die horrende Bezahlung, die er für dieses Rattenloch von dem jungen Mann gefordert hatte, in seiner Tasche. »Ihr wisst ja, wie es ist.« Damit machte er Anstalten, seinem neuesten Gast den Rücken zu kehren. Doch noch bevor er an dem schmutzigen Vorhang angekommen war, der die improvisierte Unterkunft von einem der Aborte trennte, fügte er mit einem Lächeln hinzu: »Sobald ein Bett in der Stube oder einer der Kammern frei wird, lasse ich es Euch wissen.« Er zögerte einen Moment lang. »Natürlich muss ich dann einen Aufpreis verlangen.«
»Sicherlich«, brummte Wulf und signalisierte ihm mit einer müden Handbewegung, dass er sich entfernen konnte. »Was anderes hätte ich auch nicht angenommen«, murmelte er vor sich hin, während er missmutig in seinem Bündel kramte. Seit dem vergangenen Abend war er auf der Suche nach einer Bleibe, und die unter freiem Himmel und auf hartem Boden verbrachte Nacht hatte seine Laune nicht gerade verbessert. Eigentlich sollte er Gott dafür danken, dass er noch alle Kleider am Leib trug und seine Habseligkeiten noch sein Eigen nennen konnte. Doch hatte er dafür mit äußerst wenig Schlaf bezahlt. Verdrießlich starrte er auf das Wappen seines Vaters, das ihm beim Durchstöbern seiner alten Kleider in die Hände fiel. Wie unwichtig die Suche, die ihm noch vor kurzer Zeit unerlässlich erschienen war, auf einmal war! Er unterdrückte ein Seufzen und steckte das Taschentuch in die Falten seiner Schecke. Die Aufregung um Brigitta ließ alles andere in den Hintergrund treten. Und bevor er diese Angelegenheit nicht aus der Welt geschafft hatte, würden die Nachforschungen nach seinem leiblichen Vater warten müssen. Brigitta! Wie eine gewaltige Woge überspülten ihn die Gefühle, ließ ihn der Gedanke an das Liebesspiel mit ihr erschauern, sodass er unwillkürlich die Nägel in die Handflächen grub. Das unangenehme Stechen brachte ihn jedoch umgehend in die Realität der schäbigen Unterkunft zurück. Ärgerlich über sich selbst, zwang er sich dazu, sich nicht von der Erinnerung an die letzte Begegnung mit der Geliebten ablenken zu lassen, und stopfte seine Taschen mit all den Dingen voll, die er sich nicht von dem Gesindel in der Herberge stehlen lassen wollte.
Dann drückte er sich mit gerümpfter Nase an dem Abtritt vorbei, eilte durch den Hinterhof und trat durch ein windschief in den Angeln hängendes Tor in eine Gasse hinter der im Fischerviertel gelegenen Taverne. Er würde sich beeilen müssen, wenn er Ortwin, dessen Unterkunft sich am entgegengesetzten Ende der Stadt befand, noch rechtzeitig erwischen wollte, bevor dieser wie beinahe jeden Abend in der Trinkstube untertauchte. Denn dort wollte Wulf ihn auf keinen Fall zur Rede stellen. Was er dem Gesellen zu sagen hatte, war nicht für die Ohren anderer bestimmt; jedenfalls noch nicht. Erst, wenn der Mistkerl sich weigerte, seine Verlobung mit Brigitta zu lösen, würde Wulf sein Vergehen öffentlich machen!
Hüpfend setzte er über die nach Fisch und Urin stinkenden Lachen auf der unbefestigten Straße hinweg und eilte auf den gepflasterten Rathausplatz zu. Dort wandte er sich nach rechts, und als das Schild über dem Eingang eines Hauses in der Bockgasse ihn davon in Kenntnis setzte, dass er das Gasthaus Zum Grünen Baum erreicht hatte, holte er einige Male tief Atem. Wie gut, dass Ortwin mit seinem Umzug geprahlt hatte, denn ansonsten hätte Wulf keine Ahnung gehabt, wo er den Widersacher finden konnte. Er hob die Rechte und wollte gerade den Türklopfer betätigen, als ein Prickeln in seinem Nacken ihn innehalten ließ. Misstrauisch ließ er die Hand sinken und legte sie an den Griff seines Dolches, bevor er sich gezwungen langsam umwandte und mit zusammengekniffenen Augen die Schatten absuchte. Da war es wieder, das merkwürdige Gefühl! Während sich jedes seiner Haare einzeln aufrichtete, überzog ihn eine Gänsehaut. Seit einiger Zeit hatte er den Verdacht, dass ihn jemand beobachtete; dass etwas Böses sein Netz nach ihm auswarf. Dumpf dröhnte der Herzschlag in seinen Ohren, doch als sich auch nach einigen Minuten niemand zeigte, wandte er sich wieder dem Klopfer zu. Vermutlich sah er seit der Auseinandersetzung mit Ortwin einfach nur Gespenster. Ein Grund mehr, die Sache endlich zu bereinigen.
»Wo finde ich Ortwin, den Steinmetz?«, fragte er das griesgrämige Männchen, das ihm nach einigen Augenblicken die Tür öffnete. Nachdem der abgehetzt wirkende Wirt seine Erscheinung
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